Zerrissene Szenen in kahlen Gängen

Allein in Berlin schufteten eine halbe Million: Jetzt erinnert eine szenische Lesung im historischen Bunker am Gesundbrunnen an das Leid der NS-Zwangsarbeiter. Ein geeigneter Ort, denn während des Krieges wurde er von Zwangsarbeitern errichtet

von MEIKE RÖHRIG

Unter klagendem Gesang schnüren sie ihr Bündel. Kurz schwillt ihr Singen zu einem lauten Aufbegehren an, ehe sich die Sänger, plötzlich schweigend, in ihr Schicksal fügen.

Schon der Anfang der szenischen Lesung im Bunker am Gesundbrunnen bringt das Leid der NS-Zwangsarbeiter nahe, die weitere Stunde wird anhand von Briefen einige ihrer Biografien nachzeichnen. Der Bunker unter dem Blochplatz ist ein geeigneter Ort, um diese Lebenswege anschaulich zu machen: Zum einen wurde er während des Krieges von Zwangsarbeitern errichtet. Zum anderen kommt die Bunkeranlage der Idee des Stückes entgegen: „Die Lesung ist als Weg angelegt. Die Zuschauer kommen herein, laufen durch mehrere Aufführungen und gehen durch eine andere Tür hinaus. Ein- und Ausgang kommen nicht zusammen“, erläutert Marina Schubarth, die mit dem „Verein Kontakte“ das Projekt organisiert. „Diese Konstruktion symbolisiert den zerrissenen Lebensweg der Zwangsarbeiter.“

Rund 5 Millionen Menschen aus Osteuropa wurden während des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat verschleppt und zur Sklavenarbeit in Deutschland gezwungen. Allein in Berlin waren es mehr als eine halbe Million.

Ebenso unerbittlich wie die Zwangsarbeiter werden auch die Zuschauer von zwei als deutsche Aufseher verkleideten Darstellern vorangetrieben. „Schneller“, „vorwärts“, hallt es durch die kahlen Gänge. Nur bei jeder dritten Station gibt es Sitzgelegenheiten.

Zu den Geschichten gehören viele Demütigungen: erst die Ausbeutung durch die Deutschen, dann die Schmach bei ihrer Rückkehr – als vermeintliche Nazi-Kollaborateure wanderten viele der Zwangsarbeiter gleich weiter in sowjetische Arbeitslager. Schließlich die Schikane bei den Entschädigungsnachweisen: Wer sein Leid nicht belegen kann, geht leer aus.

Oder wendet sich in Briefen an Marina Schubarth. Die Deutschukrainerin kämpft seit Jahren für die Rechte der ehemaligen Ostarbeiter. Die Hilferufe, die sie täglich erreichen, bilden die Grundlage des Stückes. Ein Ensemble von rund 20 jungen Laiendarstellern aus acht Nationen hat seit Januar an der Mischung aus Lesung, Gesang und Pantomime geprobt: Szenische Darstellungen wechseln mit Informationsräumen. Texttafeln liefern historische Hintergrundinformationen, z. B. die riesige Liste mit Namen von 750 Berliner Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigten. Sie nimmt jetzt schon die ganze Wand ein. „Dabei fehlen noch mindestens 500 Namen“, sagt Marina Schubarth.

Die ehemaligen Zwangsarbeiter sind von der künstlerischen Aufarbeitung ihres Lebens begeistert: Soja Kriwtsch, deren Briefe in das Stück einflossen, und andere ehemalige Zwangsarbeiter verliehen den Schauspielern symbolisch einen „Theaterweltpreis“.

Die Organisatoren haben auch 120 Berliner Schulen angeschrieben, um für das Projekt zu werben – mit geringem Erfolg. Nur 3 haben geantwortet. Dabei könnte das Stück gerade für Jugendliche interessant sein, meint Schubarth: „Schließlich waren viele der Zwangsarbeiter, als sie nach Deutschland gebracht wurden, im selben Alter wie die Schüler.“