„Es gibt eine Hirnschädigung“

Monika Daseking von der Universität Bremen über die Schwierigkeiten, Schlaganfälle bei Kindern zu erkennen. Die Symptome können diffus sein und erst mit zeitlicher Verzögerung auftreten. Umso wichtiger ist eine rechtzeitige Therapie

MONIKA DASEKING, geboren 1962, ist Leiterin des Forschungsprojektes „Kinder und Schlaganfall“ an der Universität Bremen. FOTO: PRIVAT

INTERVIEW: CHRISTINE SPIESS

taz: Frau Daseking, Sie sind eine Expertin auf dem Gebiet des Schlaganfalls bei Kindern. Wie sind Sie auf das Thema gestoßen?

Monika Daseking: Durch Zufall. Als Psychologiestudentin machte ich ein Praktikum in der Psychologischen Kinderambulanz, dort war ein Junge mit Schlaganfall. Ich wollte wissen, was ist das eigentlich, ein Schlaganfall bei Kindern? Das war vor zehn Jahren und seither hat mich das Thema nicht mehr losgelassen.

Wie unterscheidet sich der Schlaganfall bei Erwachsenen und Kindern?

Bei Kindern gibt es ein völlig anderes Zusammenspiel von Risikofaktoren und Ursachen. Diese liegen häufig im genetischen Bereich. Zum Teil spielen Gerinnungsstörungen eine Rolle, zum Teil Fehlbildungen, Herzfehler, unendlich vieles. Oft findet man die Ursache trotz umfangreicher Analysen gar nicht. Manchmal ist der Auslöser einfach Schnupfen, Husten, also einer Erkrankung, die dazu führt, dass ein bestimmtes Zusammenspiel aus Risikofaktoren zum Schlaganfall führt.

Wie schnell wird der Schlaganfall bei Kindern diagnostiziert?

Bei Kindern kann das zwei bis drei Tage dauern, ehe man wirklich sieht: Das war ein Schlaganfall. Vermutlich werden viele Schlaganfälle bei Kindern auch gar nicht diagnostiziert, wenn die Folgen nicht so auffällig sind, oder nur zufällig in Zusammenhang mit anderen Erkrankungen. Im frühen Kindesalter kann es vorkommen, dass Windpocken der Auslöser für eine ganz bestimmte Form von Schlaganfall sind.

Woran erkennt man diese spezielle Form von Schlaganfall?

Das ist dann so, dass die Kinder zwei, drei Tage das Bein nachziehen oder verwaschen sprechen, sich dann aber wieder normal entwickeln. Allerdings sind bei diesen Kindern später häufig so etwas wie Aufmerksamkeitsstörungen zu beobachten. Schwierig ist die Diagnose auch bei sehr kleinen Kindern. Ein Schlaganfall kann bereits im Mutterleib auftreten, die Kinder werden normal entbunden und fallen dann erst im Alter von vier bis sechs Monaten auf, wenn die Hände verkrampft sind oder sich nicht richtig schließen, wenn die eine Seite nicht mitbewegt wird. Dann gibt es manchmal die Diagnose Schlaganfall. Viele Kinder erleiden den Schlaganfall während der Geburt.

Wie viele Kinder mit Schlaganfall gibt es im Jahr?

Offizielle Zahlen nennen etwa 500 Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland, aber man muss von einer Dunkelziffer ausgehen. Es ist auch nicht immer ganz klar, was man unter einem Schlaganfall versteht, nur die Gefäßverschlüsse oder auch die Hirnblutungen. Zählt man als dritte Form noch die Sinusvenenthrombosen dazu, Blutgerinnsel in den Sammelvenen des Gehirns, dann dürften die Zahlen deutlich höher liegen. Man schätzt einen Schlaganfall auf 10.000 Kinder.

Welche Symptome zeigt ein Kind, das einen Schlaganfall erlitten hat?

Hier haben wir dasselbe Problem wie bei den Ursachen. Die Symptome, die sich zeigen, sind ganz andere als im Erwachsenenalter und lassen sich auch nicht so klar zuordnen. Manchmal sind es Sprachstörungen, manchmal ist es eher die Motorik, dass die eine Seite nicht richtig benutzt werden kann, das wäre dann die klassische Hemiparese. Manchmal aber sind es ganz diffuse Sachen, die im Alltag gar nicht so auffallen. Manchmal verliert das Kind das Bewusstsein, ist für längere Zeit nicht ansprechbar, manchmal hat es einen Krampfanfall. Aber man kann eben nicht sagen, da ist ein Krampfanfall, also hatte das Kind einen Schlaganfall.

Welche neurologischen Folgen gibt es?

Es gibt eine Hirnschädigung, im Gehirn gehen Nervenzellen kaputt. Diese hatten verschiedene Aufgaben, zum Beispiel die Funktion, Sprache zu ermöglichen oder die Funktion, dass man räumliche Dinge zueinander ordnen kann, Mosaiken legen kann, dass man aufmerksam sein kann. Wenn nun einer dieser Bereiche geschädigt ist, dann passiert etwas Faszinierendes: Das Gehirn hat die Möglichkeit, sich wieder neu zu organisieren, andere Areale zu nutzen.

Heißt das, ein Schlaganfall ist gar nicht so schlimm?

Es gibt Kinder, die sich nach einem Schlaganfall bis zur Einschulung gut entwickeln, dass ein Kind drei, vier Tage nach einem Schlaganfall wieder anfängt zu sprechen, sich wieder bewegen kann. Aber dann kommt die Schule mit der geballten Ladung an Anforderung – und dann werden die Kinder auffällig und verlieren den Anschluss. Oft sind es diffuse Probleme, dass sie eine Geschichte nicht in der richtigen Reihenfolge erzählen können, mit der Rechtschreibung Probleme haben, das richtige Wort nicht finden. Da braucht es eine gezielte Diagnostik, um zu sehen, wo das Kind Hilfe braucht. Und es ist wichtig, dass diese Diagnostik früh passiert, damit man das Kind möglichst vor der Schule intensiv fördern kann.

Und darum geht es bei ihrem Forschungsprojekt „Kinder und Schlaganfall“?

Ein wissenschaftliches Projekt zum kindlichen Schlaganfall, das so arbeitet wie wir, gibt es in Deutschland, wahrscheinlich sogar weltweit, nicht noch einmal. Wir betreuen ausschließlich Kinder mit Schlaganfall und haben darum eine entsprechende Expertise gesammelt. Die Kinder, die bei uns angemeldet werden, werden sehr eingehend untersucht. Wir schauen, was passiert nach dem Schlaganfall mit den kognitiven Fähigkeiten des Kindes. Aber wir schauen uns auch die psychischen Probleme an, die sich nach einem Schlaganfall entwickeln können. Ein Kind muss zum Beispiel damit fertig werden, dass es vieles nicht mehr so gut kann wie vorher. Wir versuchen deshalb auch nicht nur zu sehen, was das Kind nicht kann, sondern auch, wo seine Stärken liegen.

Wie lange betreuen Sie die Kinder?

Eine Besonderheit unseres Projektes ist, dass wir die Familien über einen langen Zeitraum hinweg begleiten. Wir schauen, wie ist es, wenn die Kinder in den Kindergarten kommen, wie sind ihre sozialen Fähigkeiten, ihre kognitiven Leistungen, wir schauen kurz vor der Einschulung und auf jeden Fall auch Ende der vierten Klasse, wenn der Schulwechsel ansteht. Wir haben eine große Vergleichsmöglichkeit, die Kinder kommen ja aus ganz Deutschland zu uns. Ein niedergelassener Kinderarzt wird in seiner ganzen Praxiszeit vielleicht einmal mit einem Kind mit Schlaganfall konfrontiert, ein sozialpädagogisches Zentrum sieht wenige Fälle im Jahr. Wir haben hier in den acht Jahren, seit es das Projekt gibt, 150 Familien betreut, die zum Teil mehrfach hier waren. Um die Situation der Kinder zu verbessern, muss man wissen, wie sie sich nach einem Schlaganfall entwickeln. Dafür sammeln wir all die erhobenen Daten.

Therapieren Sie die Kinder auch?

Nein. Wir versuchen so etwas wie ein Management für die Familie zu leisten: Welche Therapien sind nötig, welche Unterstützungen sind denkbar. Wir versuchen wohnortnah für die Kinder und die Familie Betreuung zu organisieren, und wir stehen oft auch in Kontakt mit den Therapeuten. Wir versuchen die Eltern zu ermutigen, eine stationäre Reha zu beantragen – das ist nämlich für kleine Kinder überhaupt nicht selbstverständlich.

Haben Sie das Gefühl, dass es den Kindern dann besser geht?

So eine geballte Ladung an Fachkompetenz bringt oft einen richtigen Sprung in der Entwicklung des Kindes. Mein Wunsch ist es, dass diese Kinder durch rechtzeitige und richtige Therapie eine Chance auf eine Ausbildung, auf einen Beruf, ein eigenständiges Leben haben.