berliner szenen Aus der Basisdemokratie

Hunger nach Zensur

In der Elternversammlung geht es darum, ob Zensuren zum zweiten Halbjahr eingeführt werden. Der Elternvertreter, der an seinen Kindern schon beide Varianten erlebt hat, sagt: „Bei der ersten Klasse waren die Kinder reif für Zensuren und heiß darauf.“ Auch die Lehrerin Frau Meyer ist bis jetzt immer gut gefahren mit Zensuren in der zweiten Klasse. Sie hat mit den Kindern gesprochen, und die meisten möchten gern Zensuren haben.

Ein langhaariger Vater ist eindeutig dafür, die Solidarität nehme mit Zensuren zu. Aber eine Mutter widerspricht: „Es gibt immer Kinder, die dadurch abgewürgt werden.“ Eine andere stimmt ihr zu: „Studien beweisen, je später die Benotung, desto besser die Leistungen.“ Der langhaarige Vater widerspricht: „Wenn da steht, es hat sich Mühe gegeben und nichts erreicht, dann nützt es doch nichts.“ Die Frau mit Vokuhila-Frisur findet das auch: „Kannet nur begrüßen!“, sie habe vier Kinder und „Zensuren sind doch Motivation für Kinder. Mein Tobi war so ein miserabler Affe jewesen, Frau Meyer hat mit Zensuren angefangen und da kam er so stolz an.“

Der Elternvertreter versucht die Wogen zu glätten: „Beides wird die Kinder nicht kaputt machen.“ Die rothaarige Mutter: „Ick bin für Zensuren, ooch wennse nich die beste ist, dann weeß ick wenigstens wo se steht.“ Dann muss sie los und verschwindet. Aber es wird weiter Widerspruch geäußert: „Die sozialen Beziehungen sind ohne Noten besser.“ Frau Dommer glaubt: „Der Schock über Zensuren wird später auch nicht geringer.“ Eine Frau stillt ihr Kind, eine andere legt sich für ihre Tochter ins Zeug: „Thea braucht noch ein Jahr, jetzt Noten wären Dämpfer für sie.“ Die Abstimmung ergibt 10 Stimmen für Zensuren und 14 dagegen. FALKO HENNIG