Zu wenig Studierende finden auf Umwegen zur Uni

Deutschland braucht mehr Studierende, stellte die OECD zum wiederholten Male fest. Der Hannoveraner Bildungsforscher Andrä Wolter meint: Kurzfristig ist die Zahl deutscher Studierender nur zu erhöhen, wenn auch Quereinsteiger ohne Abitur bessere Studienchancen bekommen

BERLIN taz ■ Mehr Studenten braucht das Land! Mit ihrer neuesten Studie hat die OECD dem deutschen Bildungssystem wieder einmal gezeigt, wie ungenügend es ist. Die Schule sei zu selektiv, heißt die Botschaft diesmal. Nur 38 Prozent eines Jahrgangs schaffen hierzulande das Abitur. Und die, die es schaffen, sind immer die gleichen.

Für den Bildungsforscher Andrä Wolter vom Hochschulinformationssystem HIS in Hannover keine neue Erkenntnis. Die „soziale Reproduktion“ von Eliten kann er in seinen Untersuchungen gut beobachten. „Wenn beide Eltern einen Hochschulabschluss haben“, sagt Wolter, „dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass das Kind später kein Abitur besitzt.“

In schöner Regelmäßigkeit wertet Wolter im Auftrag des Studentenwerks die Daten von mehr als 20.000 Studierenden in Deutschland aus. Das traurige Ergebnis: Kinder aus reinen Arbeiterfamilien haben mit 20 Prozent eine viermal geringere Wahrscheinlichkeit, das Abitur zu erreichen, als Beamtenkinder. Die Hauptursache für den fehlenden Nachschub an Studienbewerbern sieht Wolter in den Schulen. „Wir haben ein Defizit an pädagogischer Diagnostik“, kritisiert er. Lehrer sortieren Schüler häufig unbewusst aus. „Ein Kind aus der Arbeiterschicht muss sehr viel bessere Leistungen bringen als ein Beamtenkind, um überhaupt aufs Gymnasium empfohlen zu werden.“

Kann die alte neue Idee der Gesamt- oder Gemeinschaftsschule eine Lösung sein? Eine, meint Wolter. Die andere wäre, den Leuten auch dann eine Chance zu geben, wenn sie kein Abitur haben – etwa über die Fachoberschulen in die Fachhochschulen. Hier ist der Anteil der Arbeiterkinder beinahe doppelt so hoch wie an den Unis.

Doch auch mit Einführung der Fachhochschulen ist es nicht gelungen, ein Grundproblem des deutschen Bildungssystems aus dem Weg zu räumen. Das der zu geringen Studentenzahlen. Zwar ist die Zahl der Studienanfänger in den letzten drei Jahren nochmals um rund 10 Prozent auf mittlerweile 276.000 gestiegen. Experten warnen allerdings vor einem Akademikermangel. Im Jahr 2010 wird ein Viertel der Arbeitsplätze hochqualifizierte Ausbildungen voraussetzen, weitere fast 50 Prozent erfordern gute Qualifikationen. Deutschland geht der Nachwuchs aus.

Zeit, sich verstärkt auf die nichttraditionellen Studierendengruppen zu konzentrieren, rät Andrä Wolter. Darunter versteht man Studierende, die ohne Abitur an die Hochschulen kommen. Alle Bundesländer – mit Ausnahme von Bayern – haben für diese Gruppe Sonderzugangswege zu den Hochschulen eingerichtet. So gibt es für beruflich Qualifizierte die Möglichkeit, auch ohne Abitur, entweder nach Eignungstests oder durch entsprechende Weiterbildungen wie Techniker oder Meister, nachträglich noch den Sprung auf eine Hochschule zu schaffen. Ihr Anteil freilich ist mikroskopisch gering, nur 1 Prozent kommen auf diesem Weg an die Hochschulen.

„In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist der Ausstieg aus dem sicheren Beruf natürlich ein biografisches Abenteuer“, so Wolter. Hinzu kommt, dass alle Modelle eines gemeinsam haben: Sie sind unflexibel und unübersichtlich. Laut Kultusministerkonferenz gibt es in den 16 Bundesländern derzeit etwa 30 verschiedene Regelungen für den Hochschulzugang ohne Abitur. Allein Niedersachsen hat es geschafft, mit speziellen Vorbereitungskursen zur Zugangsprüfung die Quote der nichttraditionellen Studierenden zu steigern – auf 3 Prozent.

Überhaupt haben in Deutschland erst wenige Hochschulen es geschafft, den Bedürfnissen von Studierenden aus dem Beruf heraus gerecht zu werden. „Es müssten mehr Teilzeitstudienplätze geschaffen werden“, analysiert Wolter die Lage. Viele talentierte Studienwillige hätten aus der finanziellen und familiären Lage heraus nicht die Möglichkeit sich in Vollzeit einem Präsenzstudium zu widmen.

Ganz vorne mit dabei in der Eingliederung nichttraditioneller Studierender ist die Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP). Als erste deutsche Hochschule ließ sie Personen ohne Abitur und Fachhochschulreife zum Studium zu. Bis heute sind rund 40 Prozent der Plätze für diese Gruppe reserviert. Die Befürchtungen vieler anderer Bildungseinrichtungen, das wissenschaftliche Niveau könnte absinken, hat man erfolgreich widerlegt.

Doch auch hier ist das Angebot gefährdet. Der Hamburger Senat gliedert Studiengänge der HWP in das Angebot der Universität Hamburg ein. Dann aber könnte man auf die Bedürfnisse der berufstätigen Studenten eingehen – und die Quote der Ohne-Abi-Studenten würde sinken. Von 40 auf nur 10 Prozent, wird befürchtet. Und das, obwohl Deutschland dringend unverbrauchten akademischen Nachwuchs bräuchte. KARIN LOSERT