Ich ist eine andere Biografie

Die Heiligenviten des dritten Jahrtausends: Auch im Herbst rollt das Trendsegment „Mein Leben“. Noch mehr Stars schreiben ihre Autobiografie. Die Titel mögen dabei noch so sehr Sinatra beschwören: „I did it my way“. Tatsächlich stricken die Autoren am immer gleichen Heldenbild

Preisfrage: Gibt es derzeit eigentlich noch einen halbwegs prominenten Menschen in Deutschland, der keine Autobiografie geschrieben hat? Es gibt ihn (noch)! Oder besser: sie. Denn es ist eine Frau, die – obschon in den Medien bekannt – zu jener aussterbenden Gattung von Zeitgenossen gehört, die ihr „Leben“ nicht gleich so außergewöhnlich findet, dass man es sofort zwischen zwei Buchdeckel pressen müsste. Ausgerechnet die sonst eigentlich nicht für ihre Zurückhaltung berüchtigte Ex-RTL-Moderatorin Margarethe Schreinemakers war es, die bekannte, dass sie „bestimmt kein Buch“ über sich selbst schreiben möchte. Schließlich brächten „doch nun wirklich alle gerade Bücher über sich selbst“ heraus. Warum solle sie diesem Wust „noch eins hinzufügen“?

Tja, warum eigentlich?! Leider sind viele andere deutsche Promis da weniger zimperlich. Ob Altrocker Udo Lindenberg („Panikpräsident“) oder Pornostar Gina Wild („Ich, Gina Wild“). Ob Radrennfahrer Jan Ullrich („Ganz oder gar nicht“) oder Bayern-Torwart Oliver Kahn („Nummer eins“). Ob politische Aufsteiger wie Angela Merkel („Mein Weg“) oder politische Aussteiger wie Helmut Kohl („Erinnerungen 1930–1982“). Und natürlich Schlagzeilen-Junkies wie Susanne Juhnke („In guten und in schlechten Tagen“), Boris Becker („Augenblick, verweile doch“) oder Uschi Glas („Mit einem Lächeln“): So viele „ganz persönliche“ Lebensbeichten wie derzeit überschwappten wohl noch nie die Nation. Schließlich kann man in der hiesigen Buchbranche gerade mit kaum etwas mehr Geld verdienen als mit Ego-Geschichten aus dem angeblich „wahren“ Leben, auch wenn die in der Regel weder besonders „wahr“ noch besonders spannend ausfallen.

Auch in diesem Herbst rollt die Promi-Offenbarungswelle wieder, wenn neben anderen diesmal auch Uwe Seeler („Danke Fußball! Mein Leben.“), Günter Netzer („Aus der Tiefe des Raums“), Peter Zadek („My Way“) und natürlich Biografie-Vielschreiberin Carola Stern („Uns wirft nichts mehr um“) ihre verfrühten Memoiren vorstellen. Mit Gert Heidenreichs Gottschalk-Hymne („Thomas Gottschalk. Die Biografie“) hat die Welle außerdem soeben ihren literarischen Ritterschlag erhalten.

Längst nämlich sind jene Radau-Zeiten vorbei, als noch Rüpel wie Stefan Effenberg oder Dieter Bohlen mit Hilfe von Boulevard-Journalistinnen das Genre skandalös aufmischten. Heutzutage wächst der öffentliche Mitteilungsdrang zwar stetig an, zeigt sich aber stilistisch gezähmt. Denn neuerdings greifen Stars und Sternchen fürs Biografische gern auf renommierte Schriftsteller zurück wie den ehemaligen PEN-Präsidenten Heidenreich. Am lobhudelnden Tonfall des Marktsegments „Mein Leben“ hat das gleichwohl wenig geändert. „Ich“ – ein anderer? Von wegen! Rimbauds Credo vom Schreiben als eine letztlich nie endende Identitätssuche spielt im Trendsegment „Mein Leben“ auch weiterhin keine Rolle, sondern erfährt vielmehr seine simplifizierte Umkehrung.

„Ich“ erscheint hier dann allzu oft keineswegs anders als alle anderen, sondern folgt vielmehr strikt demselben, letztlich immer gleichen Heldenbild. Da mögen viele Biografietitel noch so oft trotzig einen angeblich ganz eigenen „Weg“ beschwören: Tatsächlich sind sie doch bevorzugt nach jenem stereotypen Schema gestrickt, mit dem schon Hofschreiber des Mittelalters einst laue Herrscherleben zu glorreichen Heiligenviten aufpeppten. Es ist das bewährte Schema des geschmähten Genies, wonach der Porträtierte am Anfang stets klein und verkannt ist, um dann – dank eines eisernen Willens, versteht sich – umso strahlender aufsteigen zu können.

Die Kindheit verläuft in der Regel folglich hart wie etwa bei Jan Ullrich, wo es heißt: „Ich war sechs, als mein Vater mich einmal richtig verprügelte.“ Oder bei Boris Becker: „Ich war drei oder vier Jahre alt, als ich mir aus dem Kofferraum des Autos einen Tennisschläger geholt und Bälle gegen die Wand geschlagen habe, stundenlang.“ Oder bei Uschi Glas, die früher wegen ihres dunklen Teints verspottet wurde: „Es war schlimm, wenn meine Mitschüler mir ‚Negerlein, Negerlein‘ hinterherriefen.“ Solche Sätze kennt man eigentlich zur Genüge aus Hollywoodfilmen, wo ständig das altbekannte Märchen vom Tellerwäscher neu aufgelegt wird, der es schließlich doch zum Millionär schafft.

In einer Zeit, die allerdings sonst wenig Siegreiches zu bieten hat, ist auch die deutsche Sehnsucht nach Siegern groß. So groß offenbar, dass sie selbst noch die langweiligste Lebensgeschichte zum Bestseller adelt. Hauptsache, das Wort „Erfolg“ kommt darin vor. Ein Ende der literarischen Selbstbeweihräucherung ist entsprechend nicht in Sicht. Für das nächste Frühjahr jedenfalls haben Nena und Franziska van Almsick schon neue Biografien angekündigt. Während die Sängerin ihre Lebensgeschichte unter dem Titel „Ich bin“ bei Lübbe ins Rennen schickt, sucht die Schwimmerin anscheinend noch nach einem Verlag und nach einer Überschrift, die möglichst einmal nicht „Mein Leben“, „Mein Weg“ oder „Die wahre Geschichte“ heißen soll.

Wie wär’s denn mit: „Kopfsprung“? Oder vielleicht in Joschka-Fischer-Manier, der zuletzt ja erst im „langen Lauf“ zu sich selber fand: „In allen Lagen zu mir selbst“?! GISA FUNCK