KERRY ERGREIFT BEIM WAHLKAMPFTHEMA IRAKKRIEG ENDLICH DIE INITIATIVE
: Befreiungsschlag mit Makel

Kerry hat die beste Rede seiner Präsidentschaftskandidatur gehalten. Es war sein schärfster, klarster und analytisch fundiertester Angriff auf Präsident Bushs Irakpolitik. Kerry nannte die Invasion einen Fehler historischen Ausmaßes. Über Nacht wandelte sich Kerry zum Antikriegskandidaten. Die Methamorphose – nicht die erste, aber hoffentlich die letzte – mischt den Wahlkampf noch einmal auf.

Die Rede war ein notwendiger Befreiungsschlag. Kerrys Wahlkampfmaschine stotterte. Seine Umfragewerte sanken. Die Konservativen hatten ihn erfolgreich in der Irakfrage in die Ecke gedrängt. Und der Unmut unter den Demokraten über ihren Spitzenmann, der lavierend und zaudernd beim möglicherweise wichtigsten Wahlkampfthema agierte, war deutlich zu spüren. Kerry musste daher die Zweifler in den eigenen Reihen überzeugen und sich endlich als unterscheidbare Alternative zu Bush präsentieren. Beides hat er getan. Seine Rhetorik hat allerdings einen Makel: Zu seinen eigenen Fehleinschätzungen und häufigen Meinungswechseln schwieg er. Mehrfach hatte er in den vergangenen Monaten sein Kriegsvotum vom Herbst 2002 verteidigt. Ein offensives Eingeständnis wäre jetzt redlicher gewesen.

Dennoch lieferte Kerry einen erfolgversprechenderen Ansatz, die verfahrene Situation im Zweistromland zu retten. Bush ist blind gegenüber den Realitäten vor Ort, Kerry erkennt sie an. Bushs Fähigkeiten, um internationale Hilfe zu werben, sind begrenzt. Zu sehr verprellte er die Partner. Auch für Kerry dürfte es schwer sein, Verbündete für einen Einsatz zu gewinnen. Deren Bereitschaft könnte jedoch bei einem Machtwechsel im Weißen Haus wachsen. Die Ankündigung, im Sommer 2005 mit dem Abzug der US-Truppen zu beginnen, ist folgerichtig, wenn man erkannt hat, dass die USA nun das Problem und nicht die Lösung sind.

Kerrys Manko bleibt jedoch, von den Republikanern als politischer Opportunist – der er ist – gebrandmarkt zu werden. Sein Kalkül: Je mehr der Irak im Chaos versinkt, desto mehr sehnen sich die Wähler nach einem Ausweg. Geht die Rechnung nicht auf, ist er wenigstens mit wehenden Fahnen untergegangen. MICHAEL STRECK