Ein Ort für geistige Vagabunden

Kämpferischer Applaus: Unter Spardruck feiert Hannovers Theaterpublikum die Experimentierbühnen des Ballhofs lauter denn je. Das poetisch wuchernde ,,Wilde oder Der Mann mit den traurigen Augen“ von Händl Klaus gibt dazu auch allen Grund

aus Hannover Jörg Meier

Eine Premierenfolge, die kein Intendant hätte besser inszenieren können. In dem Moment, in dem die beiden Ballhof-Bühnen des „schauspielhannover“ durch staatliches Spardiktat von der Schließung bedroht sind, werden dort programmatische Abende zu großen Publikumserfolgen. Eben noch bejubelt man Ruedi Häusermanns feinsinnig-versponnenen Transfer literarischer Miniaturen des russischen Dadaisten Daniil Charms in Theater und Musik: „Es ist gefährlich über alles nachzudenken was einem gerade einfällt.“ Schon schwoft man zu Le rock français bei der Inszenierung des Houellebecqschen Antiporno-Bestsellers „Plattform“. Und jetzt wird die Erstaufführung der Sprach-Partitur „Wilde oder Der Mann mit den traurigen Augen“ gefeiert. Für die hat Intendant Wilfried Schulz mit Sebastian Nübing einen der besten Jung-Regisseure an die Leine geholt; und mit ihr präsentiert er den originellen Dramatiker Händl Klaus erstmals in Deutschland.

Dieser Tiroler Kauz hat mit klassischer Dramaturgie gar nichts, mit dem zärtlichen Aberwitz Häusermanns aber sehr viel am Hut, passt ideal auf diese Raumbühne des Ballhof: ein intimes Terrain, in dem sich geistige Vagabunden und Abenteurer des Herzens tummeln un genau das tun, was im großen Schauspielhaus nicht finanzierbar wäre – und auch einfach verpuffen würde: Mit Spielformen experimentieren.

„Intelligente Provokation der Sinne, also irritieren zu dürfen, um ein Nachdenken zu erregen“, so beschrieb Olga Neuwirth in der Grazer Oper zur Eröffnung des Festivals „Steirischer Herbst“ am 14. September den Sinn der Bühnenkunst. In ihrer Rede warf die Komponistin der Kulturpolitik vor, nur noch auf die wirtschaftliche Not zu reagieren, sich der „brutalen Eindeutigkeit des gesunden Volksempfindens“, anzupassen: „Die Peitsche des Marktes schlägt in der Kunst genauso wild zu wie in der Wirtschaft.“ Warum dieses Zitat? Weil das Händl Klaus-Werk unterm Donnerhall dieser Worte in Graz, als Koproduktion mit Hannover, uraufgeführt wurde. Und weil der Entdeckungsdrang des österreichischen Festivals dem Veranstaltungskonzept des Ballhofs ähnelt. Nur, dass man es sich in Graz zur Kulturhauptstadtfeier mit einem Rekordetat von 5,5 Millionen Euro leisten kann, ganz auf die teure Kunstform zeitgenössischen Musiktheaters zu fokussieren, während Kulturminister Lutz Stratmann (CDU), gerade beim kulturellen Flaggschiff Niedersachsens durchgesetzt hat, den Etat um 5,1 auf 46,353 Millionen Euro zu senken. Schauspielchef Wilfried Schulz befürchtet deshalb die Streichung von 60 Stellen und das Aus für den Ballhof. Den Erhalt der Spielstätte macht der Intendant aber zur Bedingung für die Verlängerung seines Vertrages.

„Wilde oder Der Mann mit den traurigen Augen“ ist das zweite Stück des gelernten Schauspielers Händl Klaus, Jahrgang 1969: Eine rhythmisch akzentuierte, mit philosophischen Verweisen aufgeladene Wort-Melodie für fünf Stimmen. Zu erleben sind Rituale des Alltags, die spaltbreit Abgründe aufschimmern lassen, woraufhin Identitätskonstruktionen und Realitätswahrnehmung ins Taumeln geraten. Kafka als absurdes Theater – in der Hitze des Psychodramas: Die Hauptfigur Gunter muss einiges durchmachen, nachdem sie eine Station zu früh den Zug verlassen hat. Den gehetzten Arzt ohne Grenzen treibt auf der Rückfahrt vom Moldawien-Einsatz mörderischer Harndrang – und Durst.

Die poetisch wuchernden Vieldeutigkeiten der Vorlage werden in Bilder von skurrilem Humor gebannt. Zu entdecken ist ein zerbrechlicher, wundersamer Glücksfall, ein Prunkstück der Stadttheaterkunst. Um solche Vitalität erhalten zu können, geht Hannover jetzt besonders beifallfreudig in den Ballhof, findet sich auf einer Demo ein und unterschreibt immer mehr Petitionen. Geholfen hat es nichts.

Trotzdem will Schulz der Stadt eine leer stehende Immobilie ersparen. Nach Auskunft des Theaters hat er ein entsprechendes Konzept erarbeitet. Es müssten nur noch 390.000 Euro pro Saison aufgetrieben werden. Vom Land, der Stadt, Sponsoren oder durch Kredite der Theater GmbH. In den kommenden Wochen müssten hierzu die Entscheidungen fallen.

„Wilde oder...“ Staatstheater Hannover, Ballhof eins. Nächste Aufführungen: 28. 10; 4. und 5.11., jeweils 20 Uhr