WIEDERGELESEN: LUDOLF WIENBARGS „ÄSTHETISCHE FELDZÜGE“: Vergessener Vordenker
In der Serie „Wiedergelesen“ besprechen unsere AutorInnen norddeutsche Bücher, die vor langer Zeit erschienen, ihnen aber nie aus dem Kopf gegangen sind
Der Titel ist ein Flammenschwert. „Ästhetische Feldzüge“ überschrieb Ludolf Wienbarg sein Plädoyer für ein politisches Verständnis von Kunst und Literatur im Vormärz. Und schon der erste Satz ist ein Streich, der glatter, trennschärfer nicht sein könnte: „Dir, junges Deutschland, widme ich diese Reden, nicht dem alten.“ Das Buch mit der hoffnungsvollen Widmung erschien 1834 bei Hoffmann und Campe in Hamburg und versammelte Vorlesungen, die Wienbarg im Jahr zuvor als junger Dozent an der Uni Kiel gehalten hatte. Es machte ihn zu einem der Wortführer der freiheitlich-republikanischen Jungdeutschen, ebenbürtig mit Heine, Gutzkow und Börne.
Wie kein zweiter witterte Wienbarg damals den großen Umbruch. So erinnert er in den „Feldzügen“ an den „Augenblick, der alles umgestalten kann“. Zusammen mit Gutzkow plant er in Hamburg die Herausgabe einer literarischen Wochenschrift, der „Deutschen Revue“, die die jungdeutsche Kritik bündeln sollte. „Wir kennen die tausend Kräfte, die in Deutschland schlummern“, hieß es im Programm. Was diesem schillernden Aufbruch eines Autors aber folgt, gehört zu den großen Tragödien der deutschen Literaturgeschichte.
Den Aufruf zur Mitarbeit an der Deutschen Revue beantwortete der einflussreiche Literaturkritiker Wolfgang Menzel mit einer Schmähschrift. Und die fand bei der Reaktion nur allzu gut Gehör. „Freche Angriffe auf das Christentum, Herabwürdigung der heiligsten Verhältnisse, namentlich der Ehe“, lautet die von Preußen erhobene Anklage. Das Ergebnis: Die Deutsche Revue wird kurz vor Erscheinen verboten, die Jungdeutschen erhalten bundesweit Publikationsverbot, Gutzkow wandert für einige Wochen hinter Gitter und Wienbarg – quer durch Deutschland. Als er, aus mehreren anderen Städten ausgewiesen, völlig mittellos nach Hamburg zurückkehrt, ist die Triebfeder der Begeisterung in ihm zerbrochen. Er schleicht seinem Ende entgegen. Das lässt nach Suff, Verfolgungswahn, geistiger Umnachtung, Irrenanstalt, Zwangsjacke und Selbstmordversuchen noch bis 1872 auf sich warten.
Eine traurige Geschichte, die noch trauriger stimmt, weil sie und ihr Protagonist so gründlich vergessen sind. Dabei ist Wienbarg einer der frühsten Theoretiker der klassischen Moderne: Er verpflichtete die Jugend auf den Bruch mit dem Überkommenen, auf den Willen „deutlicher sich des Gegensatzes zwischen dem Alten und den Neuen bewusst zu werden, jung und jugendlich zu leben.“ Und wenn er schreibt, es sei an der Zeit, „das Handwerk fahrenzulassen und die Kunst zu ergreifen“, dann nimmt er damit vorweg, was im 20. Jahrhundert zum Selbstverständnis aller avantgardistischer Bewegungen wurde. Kein Zufall, dass Wienbarg auch eine Formel prägte, die erst mit Joseph Beuys, freilich in Unkenntnis von Wienbarg, wieder kursierte: „Jedermann ist Künstler und Kunstwerk zugleich.“
Das größte Verdienst Wienbargs dürfte aber sein, dass er die Abkehr von der Geschichte zugleich mit einer Theorie der Geschichte verknüpft hat. Historisches Wissen allein hat für ihn keinen Wert, den erhält es erst im Zusammenhang mit dem Leben, hier und jetzt. Wienbarg spricht von „geschichtlicher Wahrheit“, der etwas Unmittelbares und Zuversichtliches eigne, etwas Zukunftsweisendes und Altvertrautes. „Ich höre das Fernste aus fernen Zeiten und verstehe es sonder Mühe“, schrieb er, und gibt uns damit ein diskontinuierliches, überzeitliches Lektüremodell an die Hand, das quer liegt zum postmodernen Historizismus.
Wienbarg hat den Augenblick des Umbruchs bestimmt als Einbruch des Messianischen, der den utopischen Gehalt der Vergangenheit auf die Zukunft projiziert. Zurzeit schlägt die Philosophie dafür den Begriff Ereignis vor. Und auf der Straße heißt es: „Plötzlich ist jemand wie Obama da.“ Ob dieser Chiffre für ein Ereignis im philosophischen Sinne ist, lässt sich bestreiten. Dass Wienbarg unser Zeitgenosse ist, dagegen nicht. MAXIMILIAN PROBST
Aufbau-Verlag Berlin, 1964, Hoffmann und Campe, 1919, www.zvab.com
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen