Der unfreiwillige Star

Patrick Anderson ist der beste Rollstuhl-Basketballer der Welt. Bei den Paralympics in Athen will er mit Kanada Gold verteidigen, ansonsten spielt er beim RSV Lahn-Dill in der hessischen Provinz

AUS ATHEN JÜRGEN ROOS

Es gibt Fragen, die nerven Patrick Anderson phänomenal. Die, ob er der beste Rollstuhlbasketballer der Welt sei, zum Beispiel. „Well“, sagt der Kanadier dann und wiegt den Kopf mit den rötlichen Haaren, „mein Ziel ist es vielleicht, der kompletteste Spieler zu sein – aber das ist auch alles.“ Der kompletteste? Der beste? Der Unterschied dürfte gering sein. Patrick Anderson hat einfach keine Lust dazu, sich über andere zu stellen. Oder über andere gestellt zu werden. Dass die italienische Gazzetta dello Sport ihn vor kurzem zum „Michael Jordan des Rollstuhlbasketballs“ ernannt hat, löst bei dem 25-Jährigen nur ein Achselzucken aus. „Es gibt nur einen Michael Jordan“, sagt er dann.

Trotz dieser Bescheidenheit hat der beidseitig unterschenkelamputierte Kanadier das Zeug dazu, einer der Superstars bei den Paralympischen Spielen zu werden. Weil er beides ist: eine ganz große Nummer in seinem Sport und eine charismatische Persönlichkeit. Ein Beispiel? Obwohl die Kanadier im Gruppenspiel gegen Brasilien schon uneinholbar vorne lagen, rollte Patrick Anderson einem Schnellangriff der Südamerikaner hinterher und kam beim Versuch zu blocken spektakulär zu Fall. Fest im Rollstuhl angeschnallt, überschlug er sich zweimal, rappelte sich dann blitzschnell und ohne fremde Hilfe auf – die Szene des Tages fürs Fernsehen. Kurze Zeit später nahm der kanadische Trainer seinen Star vom Feld. Die Bilanz des 25-Jährigen nach 36 Minuten Spielzeit: 28 Punkte, 13 Rebounds, 5 Steals – ein Traumergebnis. Patrick Anderson war es, der beim kanadischen 76:57-Sieg gegen Brasilien den Unterschied ausgemacht hat.

„Es macht einfach nur Spaß, mit ihm zusammen zu spielen“, sagt sein Teamkollege Joey Johnson. Die Experten sind sich derweil einig, dass Patrick Anderson unvergleichlich ist. Er beherrscht es meisterlich, den Ball zu fangen und abzuspielen, während des Dribbelns blitzschnell dem Rollstuhl eine andere Richtung zu geben, mit seiner enormen Armspannweite zu blocken – und wenn er weit nach hinten gelehnt zum Wurf ausholt, dann geht der Ball mit ziemlich großer Sicherheit in den Korb. Ein kompletter Spieler. Vielleicht der kompletteste? Der Star? Patrick Andersons Kommentar fällt wieder ziemlich eindeutig aus. „Ob’s einen Star gibt oder nicht, ist in einem Mannschaftssport doch völlig unwichtig“, sagt er. Punkt.

Trotz all dieser sportlichen Perfektion: Anderson steht in Athen als Stellvertreter für viele der Paralympics-Teilnehmer, die gesund geboren wurden und wegen eines Unfalls mit einer Behinderung leben müssen. Neun Jahre alt war er, als ein Freund seiner Mutter betrunken einen Autounfall baute, bei dem Anderson beide Beine verlor. Völlig auf den Rollstuhl angewiesen ist Anderson zwar nicht, aber seine Eishockey-Karriere musste der Junge abhaken. Ein Schicksalsschlag? „Nach all den Jahren macht man sich darüber keine Gedanken mehr“, sagt er heute. Er hat das Trauma überwunden und – so melodramatisch es auch klingen mag – über den Behindertensport seine Erfüllung gefunden. Wie so viele, die sich in diesen Tagen in Athen zu ihren Weltspielen treffen.

Was Anderson freilich herausragend macht: Der Kanadier hat es geschafft, Profi zu werden und mit dem Rollstuhlbasketball seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Und das erreichen nur ganz wenige. Überraschender ist nur noch, dass sich dieses Kapitel im Leben von Patrick Anderson ausgerechnet in Deutschland ereignet. Bei einem rührigen Verein namens RSV Lahn-Dill in Hessen, der in diesem Jahr bereits deutscher Meister, Pokalsieger und Europapokalsieger war. Wie das ging? Als Patrick Anderson vor zwei Jahren beim RSV hineinschnupperte, war ihm sofort klar: „Das ist die Atmosphäre, in der ich spielen will.“ 1.500 Zuschauer, Pauken und Trompeten, eine Begeisterung für die Randsportart Rollstuhlbasketball, wie sie wohl auf der Welt einzigartig ist. „Einfach nur cool!“, sagt Anderson, der im Sommer des vergangenen Jahres von Brisbane nach Gießen gezogen ist.

Ein kleines Wunder eigentlich, dass sich Andersons großer Traum ausgerechnet in der hessischen Provinz erfüllt hat. Seinen wichtigsten Nationalmannschaftskollegen Johnson brachte Anderson gleich mit, diese Achse macht den RSV so gut wie unschlagbar. Wohnung und Auto bekommen die kanadischen Asse gestellt, dazu gibt’s noch ein Monatsgehalt – man spricht von 2.000 Euro.

Für Athen haben sich Anderson und seine Kanadier nicht weniger als die Wiederholung der Goldmedaille von 2000 in Sydney zum Ziel gesetzt. Dann würde der 25-Jährige mit einiger Sicherheit einer der Superstars dieser Spiele werden – auch wenn er das nicht gerne hört. Im Team ist er ohnehin der Star, seit publik wurde, dass der beinamputierte Sprinter Earle Connor wegen einer positiven Dopingprobe zu Hause bleiben musste. Nandrolon, Testosteron, die ganze Palette, die man aus dem Profisport kennt. Gesprächsstoff im kanadischen Team? Anderson zuckt wieder mit den Schultern. „Was soll ich dazu sagen?“, sagt er, „ich bin clean.“ Es gibt noch mehr Fragen, die Patrick Anderson phänomenal nerven.