UN-Bühne als Wahlkampfplattform

In seiner Rede vor der UN-Vollversammlung schafft es US-Präsident Bush, die Realitäten im Irak weitgehend zu ignorieren. Scharfe Replik von Herausforderer Kerry. Auch in den Reihen der Republikaner wächst derweil die Kritik an der Irakpolitik

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

Niemand erwartete ernsthaft, dass US-Präsident George W. Bush bei seinem Auftritt vor der UN-Vollversammlung Tacheles über den Irak und seine selbst eingeräumten „Fehlkalkulationen“ reden würde. Er schaffte jedoch das Kunststück, mit kaum einem Wort auf die katastrophale Realität im Zweistromland einzugehen, stattdessen eine selbstgerechte Rede zu halten, die einen glauben ließ, im Irak blühe die Demokratie.

Seine Ansprache richtete er zudem nicht an die Weltgemeinschaft, sondern an sein Publikum daheim. Bereits im Grußwort wandte er sich an die Zuhörerschaft in den USA und verwandelte die UN-Bühne zur Wahlkampfplattform.

„Unerklärlich trotzig“, kommentierte die New York Times seinen Auftritt. Sein Herausforder John F. Kerry warf Bush vor, in einer „fabrizierten Fantasiewelt“ zu leben. Am Montag bereits hatte er den Irakkrieg eine „Krise historischen Ausmaßes“ genannt und sich in einer kühnen 180-Grad-Wendung zum Antikriegskandidaten gewandelt.

Nachdem die Situation im Irak in der US-Öffentlichkeit aus den Schlagzeilen verdrängt war, hat die Summe von Ereignissen – Entführungen, Hinrichtungen, steigender Blutzoll von GIs – den Krieg wieder zum Thema und zur großen Unbekannten im Wahlkampf werden lassen.

Dabei droht Bush vor allem Gefahr aus den eigenen Reihen. Öffentlich äußern Republikaner Unmut über Bushs Irakpolitik. „Das Schlimmste, was wir tun können, ist, uns selbst zur Geisel der Illusion zu machen, dass wir gewinnen“, warnte Senator Chuck Hagel. Und die in der Irakfrage oft eher konservative Washington Post nennt Bushs ignorante Haltung „unverantwortlich und gefährlich“.

Selbst der eigene Geheimdienst CIA zeichnete in einem geheimen, vergangene Woche an die Presse durchgesickerten Strategiepapier vom Juli ein düsteres Bild von der Lage im Irak und warnte vor einem Bürgerkrieg im kommenden Jahr. Zuvor hatte das Pentagon eingeräumt, die Militärkontrolle über weite Teile des Zentralirak an die Aufständischen verloren zu haben. Manche konservative Experten, wie Rick Barton vom „Center for International and Strategic Studies“ in Washington, glauben sogar, dass die irakische Regierung sich 2005 gezwungen sehen könnte, die US-Armee zum Abzug zu drängen. Bis dahin solle sie sich am „Kabuler Modell“ orientieren und auf die Sicherung wichtiger Städte konzentrieren.

So klafft zwischen Realität und Rhetorik eine immer größere Lücke. Der Wahlkampf verbietet der Bush-Regierung weitgehend eine ehrliche Auseinandersetzung zum Irak. Bis zum Urnengang heißt es Durchhalten. Glaubt man den Umfragen, sitzt Bush fest im Sattel.

Dennoch birgt diese Taktik Risiken. Bush hat den Irakkrieg zum notwendigen Baustein im Antiterrorkrieg erklärt. Eine Mehrheit im Wahlvolk hält ihn für kompetenter, Amerikas Kampf gegen den Terror zu führen. Ein Versagen in Bagdad könnte diesen Pluspunkt dahinschmelzen lassen.

Immerhin ist eine Mehrheit der Bevölkerung überzeugt, dass die Invasion ein Fehler war. Doch sie hofft, dass das Desaster nur vorübergehend ist und ihr Land sicherer macht – eine Einstellung, die an den Vietnamkrieg erinnert, als der kollektive Erkenntnisprozess, einen falschen Krieg geführt zu haben, Jahre dauerte. Obwohl ein Großteil der Bevölkerung Ende der 60er-Jahre gegen den Krieg war, wurde Richard Nixon wiedergewählt. Die Hoffnung der Demokraten: Die Einsicht, dass der Irakkrieg ein Fehler war, reifte in nur zwei Jahren und könnte sich auf dem Wahlzettel niederschlagen.