Die Geißel der Geiselnahmen im Irak

Immer mehr Entführungen gibt es im Irak – neben den weltweit bekannten Fällen von Ausländern sind auch hunderte Iraker betroffen. Finanzielle Motive begleiten politische Forderungen. Schicksal der beiden entführten Italienerinnen ungewiss

VON ANTJE BAUER

Die Nachricht kam wieder per Video. Ein Mann sitzt darin schluchzend vor der Kamera. „Ich bin Ken Bigley aus Liverpool im Walton-Bezirk“, sagt er. „Ich bin hier im Irak, und ich denke, das ist vielleicht meine letzte Chance, zu jemandem zu sprechen, der in Europa zuhört. Ich will nicht sterben, ich habe das nicht verdient.“ Ken Bigley hat wahrlich allen Grund, verzweifelt zu sein. Zusammen mit zwei US-Amerikanern ist der 62-jährige Brite Donnerstag letzter Woche von der Islamistengruppe „Tauhid wa Dschihad“ (Vereinigung und Heiliger Krieg) entführt worden. Die Geiselnehmer haben eine Freilassung aller weiblichen Gefangenen im Irak gefordert. In den letzten Tagen hat „Tauhid wa Dschihad“ Videos veröffentlicht, auf denen die Enthauptung der beiden US-Geiseln zu sehen ist.

Nach dem Tod der zweiten Geisel hatte das irakische Justizministerium am Mittwoch die baldige Freilassung einer Biochemikerin in Aussicht gestellt, die unter Saddam Hussein das irakische Biowaffenprogramm entwickelt hatte und sich in US-Gewahrsam befindet. US-Außenminister Colin Powell hatte jedoch Konzessionen an Entführer kategorisch ausgeschlossen; der britische Außenminister Jack Straw hatte erklärt, Großbritannien werde seine Politik nicht ändern, und am Donnerstag sagte dann auch der irakische Sicherheitsbeauftragte Kassem Daud, die Gefangene werde nicht freigelassen.

Entführungen sind im Irak an der Tagesordnung. Neben hunderten von Entführungen reicher Iraker oder deren Kinder zwecks Lösegelderpressung sind im Laufe der letzten Monate mehr als 130 Ausländer gekidnappt worden, davon wurden mehr als 28 ermordet. Immer wieder werden Ausländer von kriminellen Banden entführt und dann an politische Gruppierungen „verkauft“. Auch Terrorgruppen, die ursprünglich nur politische Forderungen für die Freilassung von Geiseln erhoben – Rückzug von Truppen oder Firmen aus dem Irak, Rücknahme des Kopftuchverbots in Frankreich, Freilassung irakischer Gefangener aus dem Iran, Freilassung der weiblichen Gefangenen im Irak – beginnen laut Pressemeldungen inzwischen, außerdem Lösegeld zu fordern.

Jenseits der Versuche der Sicherheitskräfte, das Versteck der Geiseln ausfindig zu machen und der starken Worte der Politiker, den Forderungen der Geiselnehmer nicht nachgeben zu wollen, werden häufig islamische Geistliche und Stammeschefs eingeschaltet, um mit den Entführern Verhandlungen aufzunehmen. Häufig werden offenbar auch trotz öffentlicher Leugnung Lösegelder bezahlt.

Die Gefangenen werden vor der Bevölkerung nicht versteckt. Der französische Journalist Alex Jordanov, der im April vier Tage in Geiselhaft saß, sagte der Tageszeitung Libération: Wenn man irgendwo hinkommt, versammeln sich alle Dorfbewohner und starren dich an, als wärst du ein Zirkustier.“ Er berichtete, in den vier Tagen an neun verschiedene Stellen gebracht worden zu sein, die Entführer hätten sich völlig sorglos bewegt. Auch der türkische Lkw-Fahrer Mithat Çivi, der für die US-Truppen im Irak Lebensmittel transportierte und dabei entführt wurde, berichtete der türkischen Tageszeitung Radikal, in den Wohnungen von Privatleuten festgehalten worden zu sein.

Die neuesten Nachrichten über die beiden entführten Italienerinnen Simona Pari und Simona Torretta sind beunruhigender. Am Donnerstag tauchte ein Bekennerschreiben einer Gruppe namens „Anhänger von al-Sawahiri“ auf, dem zufolge die beiden NGO-Mitarbeiterinnen enthauptet worden sein sollen. Ein Video werde folgen.