Fermez la porte

Auf der Suche nach dem verlorenen Gedächtnis: Tanja Dückers und Verena Carls Anthologie „Stadt, Land, Krieg“ verrät, was die Großeltern nicht erzählen, die Enkel aber wissen wollen. Und wenn sie sich auf die Couch legen müssen. Morgen lesen die Autoren in der Baderanstalt

Opa war im Krieg, aber ein Nazi war er nicht. So oder so ähnlich lautet der Konsens, auf den sich viele Familien verständigt haben. Eine Umgereimtheit natürlich, aber eine, mit der es sich besser leben lässt. Denn der weißhaarige alte Mann, der seinen Enkel auf den Knien geschaukelt hat, er kann nicht der gleiche sein, der ... ja, was genau hat er eigentlich getan?

„Wie war das? Dann hast du mit einem echten Gewehr echte Menschen totgeschossen?“, fragt ein kindlicher Ich-Erzähler in der Anthologie Stadt Land Krieg seinen Großvater. Arne Rautenberg, 37, lässt seinen kleinen Helden diese Frage stellen, in der Geschichte schreiben wir das Jahr 1977. „Jeder Enkel, der 1977 einen Großvater hatte, der vom Krieg erzählen konnte, stellte ihm diese Frage“, kommentiert der erwachsene Rautenberg die Neugierde des Kindes. Befriedigende Antworten gab es nie.

Mit Macht, bevor es zu spät ist und die Zeitzeugen gestorben sind, tauchen sie jetzt wieder auf, diese Fragen an Opa, an Oma, nach der Familie, wo sie war, was sie getan hat, in den Jahren 1933 bis 1945. Deutsche Literaten gehen auf die Suche nach ihrer Herkunft. „Individuelles Gedächtnis“, so nennt die Wissenschaft dieses Erinnern. Geschichte ist mehr als das Konglomerat großer Namen und Daten. „Wer baute das siebentorige Theben? Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?“, fragte Berthold Brecht. Seine literarischen Nachfahren verfolgen diesen Ansatz mit Inbrunst.

Die Hamburger Autorinnen Tanja Dückers und Verena Carl haben 20 etwa gleichaltrige Kollegen zusammengetrommelt und an deren Familiengedächtnis appelliert. Herausgekommen ist Stadt Land Krieg, das manchmal über große Umwege Spuren der Vergangenheit im Heute entdeckt. Norbert Kron, 39, schickt seinen Heinrich Crohn auf die Couch einer Psychoanalytikerin. Dort darf seine Figur darüber grübeln, ob seine Sympathie für Juden nicht ein versteckter Antisemitismus ist. Norman Ohler, 33, erzählt aus einem New Yorker Bordell. Sein Protagonist sitzt verborgen hinter einem Vorhang und deklamiert für 50 Dollar die Stunde deutsche Texte zum käuflichen Sex. Später erhascht der Vorleser einen Blick auf den Kunden, dem es beim Deutschen besser kommt – und sieht einen Mann mit schwarzen Kastenhut und langen Schäferlocken entschwinden.

Die Anthologie sei nicht das „Sprachrohr einer vermeintlich homogenen Enkelgeneration“, schreibt Herausgeberin Dückers im Vorwort. Stimmt. Gemeinsam ist ihnen nicht das Geburtsjahr, sondern die Neugierde, auch die Ahnungslosigkeit. Was auch immer Opa und Oma erlebt haben – der nächsten Generation haben sie nur ein paar Brocken zugeworfen, einen auswendig gelernten Spruch aus der Besatzungszeit: „Le boeuf, der Ochs / la vache, die Kuh / fermez la porte, die Tür mach zu.“ Mit solchen Bruchstücken beginnt die Suche.

Andrea Mertes

Lesung: Dienstag, 20 Uhr, Baderanstalt Hamburg (S- Bahnhof Hasselbrook), mit Stefan Beuse, Katrin Dorn, Matthias Göritz, Michael Weins, Verena Carl.Tanja Dückers, Verena Carl (Hrsg.): „Stadt, Land, Krieg“, Aufbau- Verlag, 240 Seiten, 8,50 Euro