russisches berlin
: Eine Führung

In den Zwanzigerjahren hassten viele Russen die Revolution und flüchteten nach Berlin. Auf mehr als 350.000 wird ihre Zahl im Jahr 1920 geschätzt. Die vornehmsten, wohlhabendsten und die Künstler siedelten sich in Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg an. Und Tempelhof war der Transitbezirk für die armen Flüchtlinge, die dort in Baracken und Kasernen ihr weiteres Schicksal erwarteten. Das russischen Berlin hatte eigene Läden, Kabaretts und Kaffeehäuser, 80 Verlage und 39 Zeitungen. Das Wohngebiet nannte man Charlottengrad.

Um die Jahrhundertwende war Deutschland bei den wohlhabenden und intellektuellen Russen groß in Mode gewesen, es war bekannt für seine guten Universitäten und seine mondänen Kurorte. Etwa zehntausend russische Touristen besuchten vor der Revolution jedes Jahr das aufstrebende Berlin. Als jedoch die Masse der Emigranten – zwischen 1918 und 1920 – in die Stadt strömte, lag Deutschland am Boden, und es war dann gerade die Inflation, die den Russen das Leben erleichterte, indem sie hier ihre Habseligkeiten und Familienreliquien günstig verkaufen konnten.

Die neuen Kunstströmungen wurden leidenschaftlich diskutiert, es gründeten sich mehrere Literaturzirkel und ein Verband russischer Schauspieler. In der Kneipe Prager Diele bildete sich ein Stammtisch um Ilja Ehrenburg, in den Literaturcafés fanden Lesungen statt.

Seit 13 Jahren gibt es erneut eine Emigration von Russen nach Berlin, die sich ähnlich entwickelt – bis hin zu Gastauftritten prominenter russischer Künstler in der hiesigen Russenszene und einem anwachsenden Berlintourismus wohlhabender Russen. Dies hat anscheinend das Interesse der Deutschen an der Geschichte der russischen Emigranten in Berlin geweckt, denn es gibt inzwischen eine Stadtführung, die sich „Russische Boheme im Berlin der Zwanzigerjahre“ nennt. Veranstaltet wird sie von Barbara Kerneck (früher Moskaukorrespondentin der taz) und Franziska Richter (Mitarbeiterin im Deutsch-Russischen Austausch e. V.) Man trifft sich dazu jeden Sonntag um 11.30 Uhr am U-Bahnhof Viktoria-Luise-Platz. Die Teilnahme kostet 8 €. EKATERINA BELIAEVA