Steilvorlage für den Darwinismus

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Die Lobredner der Privatisierung warten nur auf ein Programm, um ihre Härte in Soap- Operas umzusetzen

„Die Angleichung der Ethik und der Psychologie des Sterbens an den Stand der medizinischen Technik ist so überfällig, wie es 1789 die Angleichung der bürgerlichen Freiheiten an den Stand der so genannten Produktivkräfte war.“ Wolfgang Schivelbusch, Süddeutsche Zeitung , 15. 10. 2003

In einem lesenswerten Beitrag „zur neuen Euthanasiedebatte“ plädiert Wolfgang Schivelbusch in der SZ für „das süße Sterben“. Für eine radikale Emanzipation von der Ethik des „natürlichen Todes“, die inzwischen in der medizinischen Lebensverlängerungstechnologie kulminiert. Für eine analog zur Sexualpädagogik zu begründende „Pädagogik des Sterbens“ und für das fundamentale Recht jedes Menschen, sein Leben zu beenden – und zwar zu einem Zeitpunkt, den er selbst bestimmt. Es gelte, „das von der Medizintechnik besetzte Terrain des Sterbens wieder zu humanisieren“.

Die durchaus segensreichen medizinischen Standards sollten endlich der Kontrolle durch die christliche Moral entwunden und einer entschiedenen Liberalisierung und Säkularisierung des Sterbeparadigmas zugeführt werden. Sterbepädagogik sei in die Lehrpläne aufzunehmen, gehöre doch der Tod zum Leben „wie das Ende zum Anfang“. Ähnlich unnatürlich und ungesund wie das Verhältnis der viktorianischen Gesellschaft zur Sexualität sei das Verhältnis der heutigen zum Verfall des Leibes, sei unsere tief eingepflanzte Neigung, das Ende unseres Körpers zu ignorieren und „um jeden Preis hinauszuzögern“. Der Mensch, so Schivelbusch mit Günter Anders, ist antiquiert; lasst uns darüber nachdenken, wie er auch im tabuisierten Bereich des Todes zu einem modernen, selbstverantwortlichen Wesen werden kann.

Schivelbuschs Intervention wird, so ist zu hoffen, den Staub aufwirbeln, den das Thema verdient – zumindest einen Teil jener Staubschichten, die auf unserer bigotten Moral lasten, auf unseren Gesetzen und der hippokratischen Leben-um-jeden-Preis-Ideologie unserer Medizin. Sie kommt freilich zu einem heiklen Zeitpunkt und in einer Phase der allseits geforderten „Modernisierung“ unserer Gesellschaft, in der nicht nur eine grundlegend humane Orientierung und selbstbestimmtes Denken, sondern auch Scharfsinn und Konsequenz gefordert sind und der Mittelweg halbherziger Vorschläge in einem ganz anderen als dem gemeinten Sinne tödlich verlaufen kann.

„Debattiert“ wird gegenwärtig ja alles, aber auf einem falschen Niveau. Debattiert wird beispielsweise auch, ob es nicht sinnvoll wäre, von einer gewissen, noch zu bestimmenden Altersgrenze an die kostspielige medizinische Versorgung einzustellen – will sagen: den Tod einem qualvollen, alles andere als selbstbestimmten physischen Mechanismus auszuliefern. Der „demografische Faktor“, der, von der CDU erstmals in aller Klarheit artikuliert, nun auch die sozialrechtliche Handwerkelei der Sozialdemokraten und Grünen eingeholt hat, gespenstert längst durch Gehirne, die auf ihre Weise die „neue Euthanasiedebatte“ vorantreiben wollen und dabei keineswegs emanzipatorische, sondern darwinistische Konzepte verfolgen. Wer nicht „leistungsfähig“ ist, soll sehen, wie er verreckt. Schivelbusch streift kurz dieses Problem; er sieht die Gefahr, die ausbrechen könnte „wie eine Krankheit oder ein Krieg“ – und wendet sich dann wieder seinem stolzen Projekt einer selbstverantwortlichen Sterbepädagogik zu.

So kann ein richtiger und notwendiger Denkansatz, der für Humanität plädiert, antihumanen Planspielen zum Fraß vorgeworfen werden. Erst recht, wenn man, wie Schivelbusch, ein etwas leichtfertiges Überredungsprogramm entwirft, mit dem der Mensch zur Einsicht in die Sinnfälligkeit eines selbstbestimmten Todes gebracht werden könnte. Seine Rezepte sind, vorsichtig gesagt, „ambivalent“. Da wir alle „ohne Lügen, Illusionen, Träume und Ideologien nicht leben und offenbar auch nicht willig und leicht sterben können“, müssen wir halt in die Trickkiste greifen, die unsere todessüchtige und an Sterbebegeisterung reiche abendländische Kultur bereithält: von Berninis heiliger Theresa bis zu Isoldes Liebestod.

Unsere Kulturgeschichte könne uns Heutigen in unserer „Montage des Lebensendes“ sozusagen als Anleitung oder, neudeutsch, als „Anwendung“ eines bewährten Programms behilflich sein. Nicht ganz ohne Ironie schlägt Schivelbusch „als bewusstseinsindustriell flankierende Maßnahme“ gar die Herstellung einer Soap-Opera nach dem Modell von „Onkel Toms Hütte“ vor: Wie damals die schwarzen Sklaven von der weißen Tyrannei sollen wir uns heute von der Lebensverlängerungsdiktatur der Medizin und der Pflegeheime befreien.

Das nun ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie eloquenter Witz und kulturwissenschaftliche Bildung sich selbst ein Bein stellen und dem Lager der ganz unwitzigen Kulturfeinde eine Steilvorlage liefern können. Die Darwinisten der Globalisierung, die Lobredner der Privatisierung unserer Lebensgrundlagen, die Fahnenschwinger der „Eigenverantwortlichkeit“ warten nur auf das intellektuelle Programm, das sie benötigen, um die Härte, die sie predigen, in suggestive Software und einschmeichelnde Soap Operas umzusetzen. Warum sollte man nicht die Liebe zum Selbstmord, die schon Goethes „Werther“ zur Massenhysterie getrieben hat, für eine Marketingstrategie nutzbar machen, die auch den letzten Sozialhilfeempfänger zur Einsicht bringt, dass sein medizinisch unversorgtes Dahinsiechen ein Ja zum selbstbestimmten (weil selbst verschuldeten) Sterben sei? „Sterben ist süß“ – dieser Devise folgen heute dekadente Lebensmüde, die noch in die Schweiz reisen müssen, um an die ersehnte Spritze zu kommen. Sie könnte bald zum Quellcode einer „bewusstseinsindustriell flankierenden Maßnahme“ werden, die den Erniedrigten und Beleidigten, den Modernisierungsverlierern und real Verhungernden auf unserer Welt predigt, dass nichts schöner sei als der Tod.

Auch ein Denkansatz, der für Humanität plädiert, kann auf antihumane Plan-spiele hinauslaufen

Hier zeigt sich ein in der Geschichte der denkenden Menschheit sehr bekanntes Stereotyp: die Differenz zwischen den Entwürfen der Intellektuellen und der Rasanz, mit der sie von der Wirklichkeit überholt, integriert und im Kampf um das Bewusstsein der Menschen umfunktioniert werden. Was das Nachdenken über den Tod, über unsere letzte Minute, über die Autonomie des Menschen und seine Selbstverfügbarkeit betrifft, ist es bitter notwendig, gegen Religion und Staat, gegen die Kälte der Hightech-Medizin und gegen reaktionäre Gesetze anzurennen. Die weltweit konsensfähige Forderung nach einem selbstbestimmten Leben impliziert zwingend die nach einem selbstbestimmten Sterben.

Anders gesagt: Der Mensch, der gelernt hat, sein Leben auch gegen Widerstände nach Maßgabe seiner Einsichten zu gestalten, dieser Mensch darf nicht unter den lebensverlängernden Apparaten der Kliniken oder im Terror der Pflegeheime verfaulen. Hier öffnet sich – und das hat Schivelbusch deutlich gemacht – im Kampf um die Menschenrechte eine neue Front. Aber im Hintergrund lauern die Wölfe. Sie warten darauf, dass die Intellektuellen eben die Gesetze zu Fall bringen, die ihnen selbst im Wege sind – um Konzepte durchzusetzen, die heute angeblich „noch nicht denkbar“ sind.