Berlin - von Kennern für Kenner Die Buchstaben-Fabrik

Leerstelle (16): Eine Mauer in der Chausseestrasse in Mitte. Gleich daneben liegen die Toten unter der Erde des Dorotheenstädtischen Friedhofs.

An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens in Berlin.

Für E.W., der nebenan die Buchstaben verwaltet.

Der vorliegende Text der oben benannten Rubrik „Leerstelle“ ist, den Regeln der gegenwärtigen Grammatik und Rechtschreibung gemäß, mit Buchstaben gefüllt, welche nebeneinandergestellt Worte ergeben, die, von Pausen und Satzzeichen unterbrochen und geordnet, ein Erzeugnis jener Fabrik sind, deren - aus ihren eigenen Produkten zusammengestellte - Bezeichnung Thema dieses Textes ist: der BUCHSTABEN-FABRIK.

Mehr Metapher läßt sich kaum unterbringen in einem Substantiv, das für die Schrift und für das Leben stehen soll, das mit Buchstaben zu beschreibende. Die „idiosynkratische Anordnung von 26 phonetischen Symbolen, 10 Zahlen und etwa 8 Satzzeichen in waagerechten Zeilen“ (Kurt Vonnegut) dimensioniert das Leben und dessen äußere Erscheinung wie nichts sonst.

Wie anders soll es zu beschreiben sein? Wie anders sollten wir es lesen? Wir werden mehr darüber wissen, wenn die digitalen Daten auf ihrem nicht anzuhaltenden Triumphzug die Schrift abgelöst haben. Mit überschaubaren Collagen ist es dann vorbei. Da ist die Aufschrift (mittels Schablone aufgebracht um 1900) durchsetzt von einem Satzzeichen und unterlegt von einem Piktogramm: der den Betrachter nach rechts weisenden Hand. Rechts liegen immer noch die Toten unter der Erde des Dorotheenstädtischen Friedhofs. Rechts steht schon nicht mehr der Sandstein zur Erinnerung an die Spartakusgruppe, die sich in der Kanzlei des Anwalts Liebknecht, Chausseestraße 121, traf. Rechts kleben auch nicht mehr die Plakate für „Spartakus-Catering“ in der ebenfalls abgerissenen HO-Kaufhalle gegenüber von Rechts. Rechts findet sich nicht mehr der Hinterhof der Nummer 122, in dem Heinrich Raabes Unternehmen (“Buchstaben aus Karton, Papier, Zelluloid, Holz und Metall“) ansässig war bis 1945. Dem wird nun eine neue Fassade nebst Wohn- und Geschäftsinhalt vorgeblendet, bis der nächste Krieg oder Investor den Anbau wieder einreißen wird, und eine spätere Generation Aufschrift und Graffiti entdeckt unter Anteilnahme ihrer Hermeneuten im Gefolge.

Auf der Brandmauer wird sich dann erstens zeigen, was dem Zeitlauf, zweitens, was dem Baustoff widerstand. Und drittens wird zu sehen sein, wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts die (lateinische) Schrift zurückzuverschwinden begann in den Bildern, drei- bis viertausend Jahre nach ihrer Entstehung (aus semitischen und griechischen) Alphabeten. Die ihrerseits aus Bildern (und gegen Bilder) entstanden. So wie die Fabriken verschwinden, werden mit ihnen die Schriftcodes verschwinden und ersetzt durch effizientere, schneller zu übermittelnde Codes. Ohne die, beispielsweise, auch dieser Text nicht gelesen werden könnte nach ihrer Transformation in diverse Computersprachen auf dem Weg durch die Glasfiberkabel der Telefongesellschaft von einem Computer in den anderen in den Druck. Wenn die Zukunft auch nicht unbedingt den Strichcodes gehören wird, wird sie anderen, Menschen jedenfalls nicht lesbaren gehören. Dafür stehen die in Rot und Weiß gehaltenen Graffiti, dem Bild näher als die Schrift. Näher zugleich den technischen Bildercodes danach.

Bis zu jenem Danach wird die ins Rechte gerichtete Hand ihre Zeit zwischen den Mauern verbringen wie Poes einäugiger Kater. Sie wird mit dem Finger auf die Geschichte zeigen, die sich nicht schließen wird mit dem Ende der Schrift; die als Funktion der Schrift gelesen werden wird, als Geschehnis, das erst durch Schrift Geschichte werden konnte. THOMAS MARTIN