Die Schnecke ist ein Fortschritt

In Frankreich werden jährlich etwa 40.000 Tonnen Schnecken verspeist. Die Deutschen importieren dagegen nur rund 200 Tonnen im Jahr. César Aguirre aber glaubt an die Weichtiere. Er freut sich, der erste Schneckenzüchter in Brandenburg zu sein

VON CHARLOTTE NOBLET

Irgendwann fand César Aguirre an seinem Arbeitsplatz, einer Suppenbar in Prenzlauer Berg, einen kitschigen Tontopf in Schneckenform, den ein Kunde vergessen hatte.

Das nahm er als Wink des Schicksals: Er musste in Deutschland bleiben. Und Schnecken züchten. Inzwischen fährt der Franzose täglich von Berlin ins Barnimer Land, um mehrere tausend Schneckenlarven hochzupäppeln. Dabei glaubt er fest an den kommerziellen Erfolg seines Tuns: „Ich weiß, dass es in Deutschland einen potenziellen Schneckenmarkt gibt.“ Und: „Ich freue mich, der erste Schneckenzüchter in ganz Brandenburg zu sein.“

Zum Weichtierexperten wurde der Franzose spätestens, als er im Garten eines Freundes auf eine Schnecke trat. Es war in Angermünde, nahe der polnischen Grenze, im September 2002. „Da waren wirklich viele im Garten unterwegs“, erinnert er sich. „Als Feinschmecker dachte ich sofort: sammeln, kochen und genießen.“

Eine knappe Minute später erzählte ihm der Freund, dass er auf Jobsuche sei. Da war die Geschäftsidee geboren: „Die Schnecken sind unsere Zukunft“, sagte Aguirre, „du züchtest sie hier in Angermünde, und ich verkaufe sie in Berlin an Restaurants und auf Märkten.“ Der Freund blieb skeptisch, aber Aguirre bekam die Idee nicht mehr aus dem Kopf. Der Mann aus Montargis im Département Loiret ist davon überzeugt, dass es in Deutschland eine gastronomische Marktlücke gibt.

In Frankreich werden alljährlich 40.000 Tonnen Schnecken verspeist. Die Deutschen importieren dagegen nur rund 200 Tonnen im Jahr, eine einheimische Produktion gibt es praktisch nicht. Eine Menge Nachholbedarf also: „Ich bin sicher, genug Käufer zu finden.“

Dann ging es los. César Aguirre suchte professionelle Ausbilder und fand sie in einem Züchter-Pärchen in Lorignac an der Gironde-Mündung. Einen Monat lang ließ er sich in die geheimnisvolle Welt der Weinbergschnecke einführen und erlernte die wichtigsten Techniken einer erfolgreichen Zucht – wo Schnecken ihre Eiertrauben unter der Erde verstecken, warum sie fast immer nach oben kriechen, wie viel Salat ein Kilo Schnecken braucht und wie man die verzehrreifen Tiere abbrüht, entkeimt und einfriert.

Für diesen Crashkurs im Frühjahr 2003 bekam Aguirre sogar eine Art Stipendium: „Ich hatte mit dem Organisator des ersten brandenburgischen Schneckenfestes in Lehnin über meine Pläne gesprochen“, erzählt er. „Der war von meiner Idee so begeistert, dass er gleich nach meiner Kontonummer fragte.“ Und der Mäzen überredete auch noch einen befreundeten Bauer zu einer Spende. Auf dem Lehniner Schneckenfest wurden übrigens 2.500 Schnecken verkauft. Was den Züchter in spe in seiner Geschäftsidee noch bestärkte.

Anfang 2004 liefen Aguirres Vorbereitungen noch im Schneckentempo. Er verbrachte viel Zeit mit der Suche nach einem geeigneten Ort für die Zucht. Dann zeigte ihm ein Freund das ehemalige Pionierlager „Helmut Just“ in Biesenthal. Ein wunderschöner Ort, mitten in der Natur. „Wir sind auf Schneckenjagd“, sagten die beiden spaßeshalber zu einem Spaziergänger, den sie in der Abgeschiedenheit trafen, und sie erzählten ihm von ihren Plänen. Der andere war ein dankbarer Zuhörer. Er hatte nämlich eine Schwäche für leckere Weinbergschnecken. Und ein Landhaus im Barnimer Land. Wieder geschah ein kleines Wunder: Der Mann stellte den beiden Schneckenfans spontan eine Ecke seines Grundstücks zur Verfügung.

Einen Monat später fuhren Aguirre und sein Freund nach Lorignac und holten dort 15.000 Schneckenlarven der Gattung Helix aspersa maxima ab. Auf dem Grundstück ihres unverhofften Wohltäters brachten sie die Larven aus. Aguirre hatte ihnen mit Brettern eine kleine Koppel gebastelt. Trotzdem, berichtet er, ist ihm ein Drittel der ausgewachsenen Schnecken schon weggekrochen. Und er prognostiziert, dass bis Oktober noch ein weiteres Drittel sterben wird. Dann macht er seine Rechnung auf: „Vor dem Winter bleiben uns hoffentlich 5.000 Schnecken, rund 80 Kilo. Wenn die sich weiter vermehren, können wir für nächstes Jahr mit etwa 250.000 Tieren rechnen.“ Noch befindet sich das Projekt im Versuchsstadium, aber der Herr der Schnecken hat hoch fliegende Pläne. Er überlegt schon, ein 1.000-Quadratmeter-Grundstück mit einem alten Gebäude anzukaufen. Da würde er einen Reproduktionssaal einbauen, einen Kühlraum, eine Küche nach EU-Norm – und einen Salon zum Genießen. „Ich werde die Helix aspersa maxima hier kulinarisch bekannt machen“, sagt der Franzose. Ob dafür noch ein kleines Wunder geschehen muss, ist eine andere Frage.