Atomstromer holen Schwung

Die Atomkraft ist als Zukunftstechnologie mausetot. Da nützt es auch nichts, wenn Lobbyisten von einer Renaissance der Kernenergie reden

VON MYCLE SCHNEIDER

Vor zwei Wochen titelte die ehrwürdige Londoner Times: „Unsere Zukunft gehört der Atomenergie.“ Und neben anderen seriösen Blättern verkündete auch die Zeit unlängst: „Kernenergie erlebt weltweit eine Renaissance.“ Auslöser war eine Studie der Internationalen Atomenergieagentur IAEA. Diese sieht für das Jahr 2030 eine zweieinhalb mal so große Menge an produziertem Atomstrom wie heute. Spinnen die alle, oder geht es wirklich wieder los?

Bevor man die Kristallkugel zu Rate zieht, ist der Blick auf die Realitäten zuweilen hilfreich. Ende August waren weltweit 439 Reaktoren in Betrieb, gerade mal 16 mehr als 1989. Im Schnitt haben die Stromunternehmen ein AKW pro Jahr angeknipst, deren Leistung etwa ein Prozent des weltweiten Marktes für neue Kraftwerke jeder Art entspricht – oder der Hälfte der seit 2001 jährlich in Deutschland zugebauten Windenergiekapazitäten. Der Anteil der Atomenergie an der Stromproduktion weltweit ist mit 16 Prozent bescheiden. Nimmt man die kommerzielle Primärenergie – also die von der Menschheit verbrauchte Energiemenge inklusive Verkehr, Heizung, Verlusten und anderem – liefern die AKWs nur sechs Prozent. Und die Tendenz verläuft zuungunsten dieses Energieträgers. Der weltweite Ausbau der Atomenergie ist schon lange zu Ende. Alle 103 heute laufenden US-amerikanischen AKWs wurden zwischen 1963 und 1973 bestellt. Steinzeittechnologie quasi. In Westeuropa, außerhalb Frankreichs und nun Finnlands, wurde der letzte Reaktor 1980 geordert, selbst in Frankreich ist seit 13 Jahren keine Anlage mehr in Bau gegangen.

Das Durchschnittsalter der heute betriebenen AKWs liegt bei 21 Jahren. Das entspricht der durchschnittlichen Betriebszeit aller 107 bereits stillgelegten Anlagen. Die Atomindustrie behauptet, dass ihre Kraftwerke künftig 40 Jahre und länger betrieben werden können. Unterstellen wir einmal eine derartige erstaunliche Verdopplung der Lebensdauer für heute laufende und im Bau befindliche Reaktoren. Selbst dann gilt: Wollte man nur die Anzahl der laufenden Anlagen stabil halten, müssten bis 2015 etwa 80 neue Kraftwerke ans Netz, bis 2025 um die 200. Selbst wenn man die Bauzeiten in den Griff bekäme – der letzte US-Reaktor war 23 Jahre im Bau, der jüngste französische achteinhalb –, ist eine solche Prognose völlig unrealistisch. Die Ultra-Pro-Atomiker der World Nuclear Association zählen bis 2015 maximal 65 Neuanlagen.

In Europa ist derzeit nur ein Reaktorneubau geplant: der European Pressurized Reactor (EPR) in Finnland. Er wird von Siemens und der französischen Framatome zum Festpreis gebaut. Das hat es in der Branche noch nie gegeben. Allerdings jammert Ralf Guldner, Chef der Framatome, schon, dass angesichts gestiegener Rohstoffpreise wie für Stahl „Schwierigkeiten“ aufträten.

Bleibt die Boomregion Asien. In Japan ist die Moral der Atombefürworter auf dem Tiefstand. Neuerdings sitzt sogar ein prominenter Atomkritiker in der nationalen Planungskommission. Und China? Schon vor 20 Jahren verkündete der damalige Präsident des französischen Energieriesen EDF vor der Presse stolz den Abschluss des ersten Atomdeals mit China über die Lieferung von zwei französisch-englischen AKWs – zum Spottpreis. Das Abkommen ist als Dosenöffner für den vermeintlich stark expandierenden chinesischen Markt gedacht. 2000 sollten bereits 20 Meiler dort laufen. Ob EDF nicht sein Hemd verliere bei dem Geschäft, fragt ein Journalist. „Nicht das Hemd, aber die Manschettenknöpfe“, antwortet der Präsident. „… goldene“, raunzt der Generaldirektor hinterher.

Im Jahr 2000 liefen in China gerade mal drei AKWs, einschließlich der zwei französisch-englischen. Heute liefern dort neun Blöcke kaum mehr als ein Prozent des Stroms. Zwei russische Reaktoren sind im Bau, vier weitere in Auftrag für eine Betriebsaufnahme um 2012. Ansonsten wird viel geredet, aber China kauft vor allem Technologie und sitzt auf gigantischen Kohle- und Gasvorräten. Sollte das Land tatsächlich in den nächsten 20 Jahren mehr als ein halbes AKW pro Jahr in Betrieb nehmen, wird es Eigenentwicklungen bevorzugen – irrelevant für den Weltmarkt.

Beim größten Energieverbraucher der Welt, den USA, werden wieder viele Meiler gebaut. Nur kein Atomkraftwerk. „Bush hat gut reden, man müsse die Atomenergie wieder ankurbeln. Die Investoren drängeln sich nicht“, sagt das Pariser Zentrum Geopolitik der Energie und Rohstoffe (CGEMP). Zwischen 1999 und 2002 haben US-Stromunternehmen über 144.000 Megawatt (MW) Neukapazität ans Stromnetz gekoppelt, anderthalbmal die Gesamtleistung aller amerikanischen AKWs. Nur Großkraftwerke sind out: 2002 lag die Durchschnittsgröße unter 100 Megawatt. Wo passt denn da ein 1.600-MW-Dinosaurier rein? So groß muss nämlich die Leistung eines Atomreaktors sein, damit sich die Investition in die Sicherheitstechnik wenigstens theoretisch rechnet. Zu groß, zu unflexibel, zu kapitalintensiv, zu lange Amortisationszeiten. Kein Wunder, dass weder Weltbank noch die Asian Development Bank je Atomkraftwerke finanzieren.

„Union will neue Atomkraftwerke bauen“, titelte jüngst die Welt. Das müssen die Christdemokraten dann wohl alleine machen. Die Strommanager werden kaum zur Schaufel greifen. Die Atomtechnologie ist als Zukunftstechnologie mausetot. Der Rest ist Wind, kurioserweise von Atomlobby und Anti-Atom-Bewegung gemeinsam geschürt. Was bleibt: Das Problem der mehr als 400 laufenden Meiler weltweit, die immer älter und nicht sicherer werden, und die erst, wenn man sie abschaltet, richtig viel Geld kosten.

Mycle Schneider ist internationaler Berater für Energie und Atompolitik. 1997 erhielt er den Alternativen Nobelpreis.