Fernblick mit Faltenwurf

Die Selbstinszenierungen reicher Inder zwischen Tradition und Moderne, zwischen West und Ost: Der Hamburger Bahnhof zeigt unter dem Titel „Privacy“ Arbeiten der indischen Fotografin Dayanita Singh

von DOROTHEE WENNER

Es war ein weiter Weg, den Dayanita Singh zurücklegen musste, um im indischen Wohnzimmer ihren Platz zu finden. Die 1961 in Neu-Delhi geborene Fotografin erzählt gerne, wie sie als Kind das ewige Posieren für ihre Mutter regelrecht hasste. Als älteste von vier Töchtern musste sie ständig in irgendwelchen Räumen und Sehenswürdigkeiten auf Sofas liegen, vor edlen Möbeln oder unter gigantischen Kronleuchtern still stehen, damit die Mutter „ein Motiv“ hatte. Im Familienalbum sollte schließlich nicht nur das Kind und sein Heranwachsen dokumentiert werden, sondern auch seine Umgebung als äußerliche Manifestationen der elterlichen Liebesweise.

Singh wollte diesem auf Repräsentation bedachten Mittelklasseleben unbedingt entfliehen, der Beruf, so war es ihr Wunsch, sollte ihr einen Ausweg bieten. Sie wurde Grafikdesignerin und begann zunächst mehr durch Zufall und „nebenbei“ zu fotografieren. Als sich dann jedoch die Gelegenheit bot, am International Center of Photography in New York zu studieren, zögerte sie nicht, ihre Mitgift dafür zu investieren. Von Amerika aus reiste sie immer wieder nach Indien, fotografierte aber ihre Heimat zunächst so, wie es unzählige vor und nach ihr machten. Sie war der Farbenpracht erlegen und wählte als Sujet Indiens soziale Probleme. Singh fotografierte Aids-Kranke und Prostituierte – bis sie begriff, dass sie nicht ihren „Lebensunterhalt mit dem Elend anderer verdienen konnte“.

Es sei zunächst Verzweiflung gewesen, so Singh, die sie dazu brachte, die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung abzulichten: Nachbarn, Freunde von Freunden, Bekannte. Erst als sie Colin Jacobson, dem Bildredakteur des Independent-Magazins, diese quasi privaten Aufnahmen zeigte, begriff sie, dass sie ein Sujet gefunden hatte, dass sie inzwischen zur vielleicht prominentesten indischen Fotografin gemacht hat.

„Privacy“ heißt die Ausstellung, die derzeit im Hamburger Bahnhof zu sehen ist. Es sind großformatige Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus den Wohnzimmern zumeist wohlhabender indischer Familien. Singh – so erahnt man – hat für das Arrangieren dieser Aufnahmen sicher noch viel mehr Zeit verwandt als einst ihre Mutter, aber eine Spur der privaten indischen Familienfotografie ist durchaus noch in dieser künstlerischen Weiterentwicklung des Genres vorhanden. Und genau das macht den Charme und die Intensität von Dayanita Singhs Bildern aus. Es sind keine Schnappschüsse, sondern (Selbst-)Inszenierungen einer Gesellschaftsschicht, in der die Familie und deren Heim noch eine sehr wichtige Rolle spielt.

Das sieht man nicht zuletzt daran, wie sich Familienmitglieder auf den Bildern umeinander gruppieren – beziehungsweise wie Singh sie in ihrer vertrauten Umgebung posieren lässt. Der Unterschied zwischen Selbst-und Fremdarrangement scheint fließend und irrelevant, da es ganz offensichtlich ein gegenseitiges Einverständnis über das Resultat gibt. Es fällt beispielsweise auf, dass nur wenige der Porträtierten lächeln und sich damit dem albernen „Cheeeese“-Ritual verweigern. Die Blicke sind im Gegenteil äußerst überlegt, aber nicht alle fokussieren die Kamera. Vor allem einige der Damen haben unverkennbar den sehnsüchtigen, in die Ferne schweifenden „Bollywood“-Blick der Filmstars. Allen gemein ist jedoch eine äußerst bewusste Haltung, insbesondere bei den Hand- und Fußstellungen der älteren Leute meint man ihre Erfahrungen mit Studiofotografie aus vergangener Zeit zu erahnen. Damenfüße, so verlangt es die Etikette, sollten nicht unter dem Sarisaum hervorschauen, und die Ringe gut sichtbar sein.

Ähnliche Sorgfalt wurde auf die Gestaltung der Räume verwandt, die sämtlich wie für den kritischen Besucherblick aufgeräumt wirken: die Fußböden glänzen, die Gardinen hängen in symmetrischem Faltenwurf, in den Vasen stehen aufgeblühte Gladiolien. Und je mehr dieser Innenräume man zu sehen bekommt, umso deutlicher wird, welche Dramaturgie Singh für ihre Ausstellung verfolgte. Die Wohnzimmer der Porträtierten entwickeln im Nebeneinander ein nahezu perfektes Abbild einer Gesellschaftschicht, deren Identität in einem turbulenten Stilgemisch aus Tradition und Moderne, Westlichem und Östlichem liegt. Nippesfiguren, Holzkreuze und Krishnabildchen, Kristallvasen und Nehru-Bilder an der Wand: Die Zimmer erzählen so beredt vom heutigen Selbstverständnis der reicheren indischen Mittelschicht, dass Singh sie teilweise auch ohne deren Besitzer ablichtete. Die leeren Räume unterbrechen das verhalten serielle Konzept, ähnlich wie die kleine „Unterabteilung“ von Familienporträts mit Hunden, die erst vor kurzem als Statussymbol von der indischen Mittelklasse entdeckt wurden.

Man entdeckt diese konzeptionellen Überlegungen, fühlt sich aber nie pädagogisch an die Hand genommen. Die Ausstellung funktioniert wie das Durchblättern eines Familienalbums von entfernten Verwandten, die man etwas aus den Augen verloren hat. Man sucht nach Vertrautem und darf sich durch die erlaubte Privatheit darüber freuen, von komischer Indienexotik völlig verschont zu bleiben.

Bis 7. 12., Di–Fr 10–18 Uhr, Sa–So 11–18 Uhr, Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50–51, Tiergarten