Warten auf die nächste Katastrophe

Vor zehn Jahren starben beim Untergang der „Estonia“ 852 Menschen. Inzwischen gibt es strengere Regeln und bessere Schiffe. Doch die Vorschriften sind voller Schlupflöcher und werden missachtet. Experten warnen vor neuem Fährunglück

AUS STOCKHOLMREINHARD WOLFF

Zehn Jahre nach der Katastrophe richteten gestern Angehörige und Politiker den Blick zurück: Bei der zentralen Gedenkfeier in der estnischen Hauptstadt Tallinn und auf einer Feier in Stockholm erinnerten mehrere hundert Menschen an die 852 Opfer des Untergangs der „Estonia“ am 28. September 1994. Nur 137 Menschen hatten das schlimmste Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte überlebt, als die Fähre auf der Ostsee wegen eines geöffneten Bugvisiers sank. Fehlende Sicherheitsvorschriften, Schlamperei und Sorglosigkeit hatten die Katastrophe verursacht.

Die Regeln sind inzwischen verschärft worden. Aber sie haben Schlupflöcher und werden nicht immer eingehalten. „Das Risiko für eine neue Katastrophe ist groß“, warnten jetzt schwedische Reichstagsabgeordnete in einer Erklärung. Letztes Beispiel: der Unfall zwischen dem polnischen Frachter „Joanna“ und der Fähre „Stena Nautica“ am 15. Februar 2004 im Kategatt, 20 Kilometer vor der schwedischen Küste. Die Schiffe auf Kollisionskurs hatten Ausweichmanöver gefahren – allerdings in die gleiche Richtung. Der Frachter rammte die Fähre seitlich und riss unter der Wasserlinie ein zwei mal fünf Meter großes Loch in den Rumpf. Eigentlich war das kein ernstes Problem: Die Konstruktion der „Stena Nautica“ stimmte mit den „Stockholmregeln“ überein – nach dem Untergang der „Estonia“ ausgearbeiteten Mindeststandards für Passagierfähren, die auch mit zwei wassergefüllten Schiffssektionen und einem halben Meter Wasser auf dem Autodeck schwimmfähig bleiben sollen.

Die „Stena Nautica“ erreichte den Hafen. Passagiere und Besatzung wurden evakuiert. Doch dass die Fähre nicht kenterte, war nur der ruhigen See zu verdanken. „Bei schlechterem Wetter wäre sie vermutlich gesunken“, sagt Olle Rutgersson, Professor für Schiffstechnik an der Seefahrtshochschule Göteborg.

Das „Stena Nautica“-Unglück beweist, wie schnell eine Katastrophe wie bei der „Estonia“ auch heute passieren kann. Dabei hat man durchaus Lehren gezogen. Bugklappen wie bei der „Estonia“ soll es nicht mehr geben, Schiffe wurden nachgebessert. Die offenen Autodecks sind jetzt mit Schotten und Zwischenwänden unterteilt, damit bei einem Wassereinbruch nicht gleich das gesamte Schiff voll läuft.

Doch was nutzen die Bestimmungen, wenn – wie bei der „Stena Nautica“ – die Türen zwischen den Sektionen offen standen und dann wegen Ausfall der Maschine nicht mehr zu schließen waren. Obwohl das Leck nur eine Sektion betraf, liefen gleich vier Sektionen voller Wasser und beeinträchtigten die Schwimmfähigkeit. Auf der „Stena Nautica“ schliefen die Lastwagenfahrer in ihren Lkws auf dem Autodeck, obwohl der Aufenthalt dort seit Jahren verboten ist. Ein Verbot, das man nicht so genau nimmt – man will es sich mit der Stammkundschaft nicht verderben. 86 Fährschiffe im zwischenstaatlichen Verkehr sind täglich auf der Ostsee unterwegs. Jährlich befördern sie 45 Millionen Menschen. Die schwedischen Parlamentarier zählen die Mängel der neuen Sicherheitsbestimmungen auf, die diesen Verkehr bedrohen. Die Bestimmungen werden ihrer Ansicht nach oft nicht eingehalten oder es gibt großzügige Ausnahmeregeln.

Auch wenn es klar scheint, warum die „Estonia“ sank – immer noch gibt es offene Fragen über den genauen Ablauf der Katastrophe. Welche Rolle spielten die offenen Ventilationsschächte mit Öffnungen an den Außenwänden der Schiffe und andere Konstruktionsdetails? Die Details der „Estonia“ besitzen auch nahezu alle anderen Fährschiffe. Das sind Fragen, die nicht geklärt wurden. Weiter kritisieren die Abgeordneten, dass Schweden, Finnland und Estland mit der von ihnen eingesetzten Kommission das letzte Wort haben sollen und eine juristische Aufarbeitung ausbleibt: „In einem demokratischen Rechtsstaat ist das nicht akzeptabel.“

Inzwischen setzen die Entwickler bei der Seesicherheit immer stärker auf die Rettungstechnik. Denn beim wirtschaftlichen Druck auf die Reedereien und dem „menschlichen Faktor“ scheinen Verbesserungen vor allem bei der Technik machbar. Immer noch gibt es keine Rettungsboote, die sicher bei jedem Sturm und jeder Schlagseite zu Wasser gebracht werden können. Olle Rutgersson forscht an seinem Institut an einem zukünftigen Fährschiff, bei dem ein Teil der Decksaufbauten im Falle eines Sinkens abgekoppelt werden können und eine schwimmfähige Rettungseinheit bilden. Technisch sicher möglich. Aber nicht zu unpraktisch und zu teuer? Alternativ werden neue Rettungskapseln entwickelt oder wasserdichte Überlebensoveralls als Alternative zu den Schwimmwesten. Man müsse Vorkehrungen treffen, um auch die vermeintlich undenkbaren Katastrophen – wie den Untergang der „Estonia“ – zu vermeiden, meint Dennis Sirviö von der Seeleutegewerkschaft Seko-Sjöfolk. „Mein Horrorszenario ist die Kollision zwischen einer Großfähre und einem mit Benzin beladenen Tanker.“ Die begegnen sich hautnah jetzt täglich in der Ostsee.