topographie des taumels von MICHAEL RUDOLF
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Zum Beispiel der „Bürgerhof“*. Schon in den Schulpausen meiner Abiturzeit stürmte ich mit einigen Vertrauten gleichen Bierkreiszeichens diesen akkurat gegenüber platzierten Vollgasthof. Pünktlich zu Beginn der großen Pause stand für uns je ein All-you-can-drink-Frühstück mit vier frischen Bieren bereit, die wir uns während der folgenden zwanzig Minuten schmecken ließen. Lebhaft unterbrochen von stets variierenden Kleinkunstprogrammen: Lehrer mussten nachgeäfft, die letzte Festnahme durch die Polizei in verteilten Rollen pantomimisch nachgestellt oder ein alkoholisches Erlebnis vom Vortag morgenländisch ausgeschmückt werden.

Nicht, dass es in dieser Topographie des Taumels sonst einen einzigen Augenblick stille gewesen wäre. Immer gab es was zu erzählen und am meisten von denen, die ohnehin ihren ganzen Tag hier verbrachten. Selten waren die Gespräche ergebnisorientiert. Trotzdem funktionierte die vor der oralen Hysterie draußen hermetisch behütete – Achtung: Kalauer! – Oral history.

Sah man diese Distinktionsverlierer unvermutet einmal draußen auf den Straßen herumschleichen, war ihnen der Glanz aus den Augen genommen, keinen Ton brachten sie hervor, und auch sonst schien ihnen alles sehr schwer zu fallen. Unsicher tasteten sie die Häuserfronten entlang, scheiterten vielleicht am Lebensmitteleinkauf oder mussten sich von herzlosen Passanten Grobheiten sagen lassen. Drinnen, im „Bürgerhof“ aber, da lebten sie auf, lebten die vorübergehende Gleichberechtigung. Und fühlten sich als Subjekt.

Großspurige Jetzt-passt-mal-auf-das-ist-nämlich-so-und-nicht-anders-Schwadroneure und ihre geübten Zuhörer, Stichwortgeber und ewigen Zweifler: die Welt – und was für eine – in einer Nussschale. Geöffnet montags bis freitags, zehn bis achtzehn Uhr. Ein täglich gegebener Breitwandfilm über acht Stunden mit siebzig bis achtzig Hauptdarstellern. Anschließend verteilten sich die Hauptdarsteller über die länger geöffneten Gaststätten und verarbeiteten und verteidigten ihre Eindrücke aus dem „Bürgerhof“ bis in die späte Nacht. Leider dann auch mit gröberen Verstößen gegen die Dialogregie.

Im „Bürgerhof“ tagte die Kommandoebene eines Lebensverschönerungsvereines, der auf die normative Kraft des Prophylaktischen baute. Eine hohe Aufenthaltswahrscheinlichkeit von Menschen, die über gültige Schanklizenzen verfügten, konnte da kaum schaden. Die Gesamtheit der eigentlichen Bürger, der ortsansässigen Doktoren, Kaufleute und Lokalpolitiker stand jedoch konsequent auf der Abwesenheitsliste. Die kamen ja in der von ihnen täglich verunstalteten Wirklichkeit prima zurecht. Im „Bürgerhof“, wären sie nur ausgelacht worden. Das wurden sie auch so, und das ahnten sie.

Jetzt, da der „Bürgerhof“ nicht mehr zum Vergeltungsschlag gegen das Schicksal lädt, weil er abgerissen wurde, haben die meisten seiner Insassen resigniert und sich in triste Apostrophenabsteigen mit habitueller Versündigung an der hergekommenen Einrichtung verkrochen. Die Kapitulation der bedrohten Bierwelt vor den Umständen habe ich mir um einiges souveräner vorgestellt.

* Name von der Redaktion geändert