Vor allem Arme sind dick dran

Renate Künast sorgt sich weiter um dicke Kinder – diesmal mit einem Bündnis statt einem Gesetz. Viele machen mit

BERLIN taz ■ Die Lebensmittelwirtschaft schließt Freundschaft mit dem Verbraucherministerium, damit Deutschlands Kinder nicht noch dicker werden.

Seit gestern läuft dieser Versuch. Die Lebensmittelfabrikanten treffen sich mit sechs anderen Gründungsmitgliedern auf der neuen „Plattform für Ernährung und Bewegung e.V.“ – eine Idee von Renate Künast, Bundesverbraucherministerin. Für die ist das Thema Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen „Herzensangelegenheit“ geworden. Vor zwei Jahren setzte sie es auf die Agenda, im Juni diesen Jahres gab sie eine Regierungserklärung zu diesem Thema ab. Nun will sie unterschiedliche Interessengruppen für eine Sache begeistern – die Zukunft des Projekts scheint aber ungewiss.

Mit Hilfe der Plattform und ihren bisherigen Mitgliedern, darunter Interessenvertreter von Krankenkassen, Eltern, Lebensmittel- und Agrarwirtschaft, Kinder- und Jugendmedizin sowie dem Sportbund, will Künast Präventionsmaßnahmen starten. Dazu sollen erst der aktuelle wissenschaftliche Stand zum Thema gesichtet, bereits ins Leben gerufene Aktionen beurteilt und auf dieser Basis Kriterien für effektive Vorsorge erstellt werden. Künast: „Es muss noch mehr Bewegungsmöglichkeiten in Kindergärten und Schulen geben.“ Referenten des Kongresses sprachen sich beispielsweise für einen täglichen Sportunterricht in Grundschulen aus. „Auch die Städte müssen mehr Angebote machen, möglichst kostenfrei.“ Wegen mangelnder Aufklärung und fehlender finanzieller Mittel sind vor allem sozial Schwache und Migranten betroffen. Für die Ministerin ist der Kampf gegen Übergewicht deshalb auch eine „Gerechtigkeitsfrage“: „Es darf kein Zeichen von Armut sein, wenn man zu dick oder in der Folge chronisch krank ist.“

Die Zahl der übergewichtigen Kinder im Schulanfangsalter verdreifachte sich in den letzten 10 bis 15 Jahren. Inzwischen sind etwa jedes 5. Kind und jeder 3. Jugendliche zu dick. Beim Gründungskongress zeigten sich alle optimistisch. Schon die Tatsache, die unterschiedlichen Interessen zusammengebracht zu haben, sorgte für „Aufbruchstimmung“. Dabei gibt es nur minimale Fortschritte auf dem Weg zu gesunder Ernährung. Theo Spettmann, Vorsitzender des Bundes für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e.V., muss es schon als Erfolg werten, dass das Angebot kalorienreduzierter Produkte weiter ausgebaut wird. Doch die sind nicht automatisch gesund.

Praktisch hat sich auch an der Problematik selbst wenig geändert. Dass gegen Fettleibigkeit Bewegung und gesunde Ernährung helfen, ist bekannt. Neu ist das Bewusstsein, dass die Vorbeugung frühstmöglich ansetzen sollte, am besten schon im Kindergarten.

Die Verbraucherzentralen hatten die öffentliche Diskussion zum Thema vor zwei Jahren mit einer entsprechenden Studie mit angeschoben. Bei der Plattform wollen sie jedoch vorerst nicht mitwirken. „Wir sind eingeladen worden, sind aber noch zurückhaltend“, sagt Carel Mohn, Sprecher des Bundesverbands der Verbraucherzentralen. Seiner Meinung nach könne die „Politik mehr bewirken als solch ein Diskussionsforum“. Renate Künast glaubt: „Das Thema ist so umfangreich, dass man es nicht in ein Gesetz pressen kann.“

JULIANE GRINGER