„Es gibt eine Mitnahmementalität – bei den Gewinnern“, sagt Sven Giegold

Das Schicksal der Montagsdemos zeigt, dass soziale Proteste ohne Internationalisierung kaum Erfolg haben werden

taz: Herr Giegold, Attac hat Medienberichte dementiert, dass sie sich von den Montagsdemos distanzieren. Wäre es für Attac nicht tatsächlich sinnvoll, das sinkende Schiff zu verlassen?

Sven Giegold: Nein. Die Demos sind lokal organisiert, und das unterstützen wir vor Ort. Wo es weitergeht, das bleibt die Entscheidung der jeweiligen Organisatoren. Es wäre doch eine Arroganz, die Demos zentral abzusagen.

Aber die Luft scheint raus zu sein aus den Protesten. Was kommt danach?

Das Ende der Proteste sehe ich noch nicht. Diesen Samstag gibt es die zentrale Demo und danach eine große Zahl von dezentralen Protesten. Der erste Montag im Jahr 2005 wird ein wichtiger Tag – wenn die Leute ihren Kontoauszug in der Hand halten. Erfreulich ist: Schon jetzt sind durch die vielen politisierten Menschen viele neue Bürgerinitiativen vor allem im Osten entstanden.

Attac hat sein Netzwerk vor allem im Westen. Haben die Demos Attac einen Aufwind im Osten beschert?

Es gab eine Menge von Attac-Neugründungen im Osten. Die meisten Initiatoren der Demos sind jedoch unabhängige Gruppen.

Kann Attac Menschen zu Protesten mobilisieren?

Unser Ziel muss neben den Protesten sein, die internationale Dimension in der Diskussion zu stärken. Denn man kann diese Kämpfe nicht in einem Land gewinnen. Das kann nur gelingen, wenn wir den internationalen ökonomisch-politischen Rahmen grundlegend ändern. Dazu brauchen wir die Kraft von Betroffenen aus verschiedenen Ländern.

Bisher haben internationale Proteste nur bei Friedensbewegungen funktioniert. Die Wirtschaft ist global vernetzt – Proteste scheitern an nationalstaatlicher Mentalität?

Nein, das liegt nicht an Mentalitäten. Proteste machen sich meist an direkter Betroffenheit fest. Das ist etwas anderes als Egoismus, schließlich geht es auch um gesellschaftliche Ziele wie soziale Gerechtigkeit. Unser Problem ist, dass die Proteste in Europa immer zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufkommen. Wenn in Italien gegen Rentenkürzungen demonstriert wird, ist in Deutschland nichts los. Anders als beim Irakkrieg – wo es ein übergreifendes Ereignis gab – muss es uns jetzt anders gelingen, gleichzeitige Aktionen hinzubekommen.

Wie soll das gehen?

Das kann nicht einfach durch Deklarationen klappen. So etwas setzt keine echten politischen Energien frei. Das muss bei konkreten Forderungen oder geplanten Maßnahmen auf internationaler Ebene ansetzen, um dies auf nationalstaatlicher Ebene für Proteste zeitgleich zu nutzen. An solchen Ideen arbeiten wir, unter anderem auf dem europäischen Sozialforum.

Redet Attac nicht über die Köpfe der Montagsdemonstranten hinweg?

Nein. Die Menschen sind nicht so blöde, wie viele glauben. Sie sehen auch die internationale Dimension. Das ist anders als noch vor zehn Jahren bei den Sozialprotesten gegen Kohl.

Passen wütende Montagsdemonstranten und Attac überhaupt zusammen?

Es gehen Leute auf die Straße, die stinksauer sind. Das können wir sehr gut verstehen. An dieser Empörung wollen wir ansetzen und internationale Fragen in die Proteste hineinbringen.

Was ist der Unterschied der Montagsdemos zu den Demos gegen Sozialabbau im April, die Attac mit initiiert hatte?

Der 3. April war von vornherein zentral geplant. Die Montagsdemos sind dagegen aus lokalen Initiativen entstanden, die leider nicht die Unterstützung von allen bekommen haben.

Sie meinen die Gewerkschaften.

Ja, die Gewerkschaften vor Ort haben mitgemacht, aber nicht auf Bundesebene. Das ist ihnen wohl angesichts der schwachen SPD zu heiß geworden.

Hat Attac bei den Montagsdemos den Fehler gemacht, erst auf den Zug „Hartz IV muss weg“ aufzuspringen und dann über Alternativen öffentlich nachzudenken?

Ach, es gibt immer Kritik an uns: Entweder machen wir zu viel Aktionen und keine inhaltliche Bildung oder andersherum. Es stimmt nicht, dass Attac keine Inhalte angeboten hat. Wir haben eine ganz Zahl von Alternativen, wie man die neoliberale Globalisierung in den Griff bekommen kann. Das ist die eigentliche Antwort auf Hartz IV.

Bundeskanzler Schröder sagt, Hartz IV muss sein – Schluss mit der Mitnahmementalität.

Das war ein populistischer Versuch, Maßnahmen für soziale Gerechtigkeit zu diskreditieren. Wenn ich mir die Politik der letzten Jahre anschaue, gibt es in der Tat eine Mitnahmementalität – nämlich derjenigen, die unter dem neoliberalen Regime gut gefahren sind.

Aber hat die rot-grüne Regierung nicht Recht damit, dass soziale Einschnitte unvermeidlich sind?

In Deutschland wird viel zu wenig darüber geredet, was Hartz IV wirklich bedeutet. Um Wohlstand für alle zu erzeugen, braucht es angesichts der hohen Produktivität nicht mehr die Vollerwerbsarbeitskraft aller. Und anstatt sich über diese großartige Entwicklung zu freuen und die Jobs gerecht zu verteilen, wird die soziale Sicherung zusammengekürzt. Und für diejenigen, die im hoch produktiven Sektor bleiben, wird es zunehmend ungemütlicher.

INTERVIEW: SASCHA TEGTMEIER