Bitte entblößen

Kunst statt Couch: Hannovers ,,Wilde Reiter“ holen Psychodrama ins Theater. Premiere von ,,Eisenhans“

Die Angst ist zum Bild gefroren: hohnlachende und flügelschlagende Gestalten umringen das blondgelockte Muttersöhnchen, jagen es zu einer „Reise nach Jerusalem“ über die Bühne. Auf den Stühlen finden sich Paare zu allerlei geschlechtlichen Akten zusammen. Übrig bleibt der goldige Depp.

Ein Mann zu werden, war noch nie leicht. Davon erzählten schon die Brüder Grimm. Sie lieferten Hannovers Theatertruppe „Wilde Reiter“ die Vorlage für das Stück „Eisenhans“, das in der „Eisfabrik“ Premiere feierte.

In der Märchenvorlage wird ein „wilder Mann“ – archetypischer Gegenpol zu Zivilisation und Schicklichkeit – am Hof des Königs gefangen gehalten. Der Königssohn befreit den Wilden, ohne zu ahnen, dass das haarige Wesen ihn befreien wird. Nur mit seiner Hilfe kann der tumbe Knabe eine Prinzessin erobern. Sodann kehrt er, erwachsen geworden, an den Hof der Eltern zurück.

Wie wachsen Jungen in einer „vaterlosen Gesellschaft“ auf? Und was für ein Männerbild hat diese Gesellschaft?

Den „Wilden Reitern“ diene die Bühne dazu, dass jeder Beteiligte seine Wahrheit zu solchen Fragen erkunden könne, erklärt Gustav Rottmann, Psychotherapeut, Autor und Hauptdarsteller des selbst verfassten Stücks. Das Ensemble beruft sich auf das Psychodrama: eine Methode der pädagogischen und sozialen Therapiearbeit, bei der Situationen aus dem Leben oder der Vorstellungswelt des Patienten/Teilnehmers – im Wortsinn – in Szene gesetzt werden.

Vor sechs Jahren verwandelte sich eine solche Therapiegruppe in ein Theatergruppe, als sie erfuhr, dass ihr Therapeut ein Rockmusical geschrieben hatte. „Das wollen wir spielen“, entschied man sich.

Drei Jahre lang wurde „Eisenhans“ geprobt. Erstes Ziel: spontane Ausdrücke für eine Aufführung auf der Bühne wiederholbar zu machen. Entstanden sind berauschende, soghafte, oft wortlose Bilder. Wie sich etwa die Frauen um Eisenhans versammeln und dabei an ihren eigenen Körpern erfreuen. Und wie düstere Cowboys die freizügige Idylle mit Hilfe von Benzinkanistern in ein Inferno aus dröhnendem Rock verwandeln, dazu werden rotes Konfetti und einströmender Brandgeruch serviert. Rottmanns Rezept: „Rockmusik und Körpereinsatz.“

Die Truppe will jedem Mitglied Raum geben, mit eigenen Verhaltensmustern zu experimentieren. Eine Schauspielerin etwa, deren Selbstbild im richtigen Leben um ihre Körpermaße kreist, tritt vor das Publikum mit dem Ansinnen: „Darf ich mich vor Ihnen entblößen?“ Andere bauen Bezüge zu Traumata in ihre Rollen ein – wie etwa sexuellen Missbrauch. „Die Bühne ist auch ein schützender Raum“, sagt Gustav Rottmann. „Auf den, der draußen tut, was auf der Bühne akzeptiert wird, wartet die Klapsmühle.“

Den Szenenbildern merkt man ihre psychoanalytische Herkunft an: Freud hätte es sicher gefreut, einen lehrbuchmäßigen hysterischen Anfall auf der Bühne zu sehen. Von einer phallischen Rose bedroht, wirft sich ein Mädchen auf den Boden, wölbt den Rücken hoch, schlackert mit dem Unterleib. Ob das zur Klärung moderner Geschlechterbilder beiträgt? Wozu hilft eine hundert Jahre alten Theorie, überall ödipale und sonstige erotische Verklemmungen zu wittern? Gruselig, amüsant und berührend aber ist es allemal. Annedore Beelte

Nächste Aufführungen: 2.,7.,8. und 9. Oktober, jeweils 20 Uhr in der Eisfabrik, Hannover, Seilerstraße 15 F