Beglückende Dubeffekte

Acht Musiker mit Laptops im Wellblechflughafentower: Mit Soundtexturen voll zersplitterter Melodiefragmente verwandelten Narod Niki die Volksbühne zu einem einzigen Dancefloor

VON TOBIAS RAPP

Der erste Anblick dürfte wohl jeden umgehauen haben. Aus der Ferne hörte man es schon wummern, betrat man Donnerstagnacht die Volksbühne und lief die Treppe hinauf. Stand man dann im großen Saal des Theaters, glaubte man für einen Moment seinen Augen nicht zu trauen: der Raum sah aus, als sei eine Art Wellblechflughafentower vom Himmel gefallen. Bert Neumanns dreistöckige Neustadt-Kulisse hatte sich in ein Endzeitbaugerüst verwandelt, auf dessen zweiter Ebene acht Musiker mit ihren Laptops standen, und einen pumpenden Minimal Techno in den Zuschauerraum schickten, der – in ähnlicher Schockstarre wie man selbst –nicht so recht zu wissen schien, wo man hier jetzt gelandet war.

Narod Niki nennt sich das Projekt, das bisher nur einmal beim Mutek Festival im kanadischen Montreal auftrat und das sich selbst in angemessener Unbescheidenheit „die einzige Supergroup des Techno“ nennt. Acht Techno-Produzenten – Richie Hawtin, Luciano, Ricardo Villalobos, Robert Henke, Zip, Réné und Pete und Cabanne – die alles in allem zwölf Laptops verkabelt hatten, um gemeinsam eine gigantische Jamsession abzuhalten. Zwar gilt der Berliner Ricardo Villalobos als das ideelle Zentrum des Ganzen – als „Villalobos und Freunde“ war die Veranstaltung auch angekündigt. In der Durchführung bildete allerdings Robert Henke, auch als Monolake bekannt, den Mittelpunkt. Er hatte nicht nur tagelang die Akustik des Raums ausgemessen, um die Technik danach auszurichten, an seinem Mischpult liefen auch die Tonspuren der verschiedenen Laptops zusammen. Über Zettel gab er die aktuelle Bpm-Zahl durch, die Geschwindigkeit, an der sich die anderen zu halten hatten. Und er war es, der den Pool der einlaufenden Sounds verwaltete und als eine Art Cyberdirigent entschied, was von diesen Klängen an die Anlage weitergegeben wurde.

Nun ist weder das Konzept neu, ein paar Laptops zusammenzuschließen, um Musik zu machen, noch die Idee, die Bühne als Dancefloor zu bespielen. Doch normalerweise funktioniert weder das eine noch das andere. Die meisten Laptop-Konzerte sind langweilig anzuschauen, und die Weite des großen Volksbühnensaals ließ die meisten Versuche scheitern, ihn zur Disko umzuwidmen. Nichts davon bei Narod Niki. Hatte man erst einmal die Ehrfurcht überwunden, in die man durch die konzeptionelle Stimmigkeit des Ganzen gezwungen wurde, fügte sich alles zusammen. Die Bühne funktionierte gerade deshalb als Tanzfläche, weil sie nicht aufhörte Bühne zu sein. Ob man saß oder stand, ob man schaute oder tanzte, ob man mitwippte oder einfach nur zuhörte: der ganze Raum war in Benutzung.

Und die Supergroup verstand sich! Da gab es die große, runde, warme Basic-Channel-Maschine, die mit ihrem Bass und ihren leichten Dubeffekten beglückte, das waren dann die Momente, wo Réné und Pete die Tonspur dominierten. Allerdings im fließenden Übergang zu dunkleren, technoparanoiden Passagen, wo Hawtin die Richtung vorgab oder verspult-perkussiven Teilen, wenn Villalobos dominierte. Eine wunderbare Vielfalt der Soundtexturen, voll von zersplitternden Melodiefragmenten. Nie hatte man das Gefühl, von zu viel musikalischem Material erdrückt zu werden, und verlor die Musik für einen Moment die Richtung, fing sie sich doch sofort wieder.

Nun ist eine solche Veranstaltung ohne konzeptionellen Überbau wahrscheinlich weder plan- noch durchführbar: an irgendwas muss man sich ja festhalten, außer dass man wunderbare Musik machen möchte. Narod Niki orientiert sich an den russischen Sozialrevolutionären, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Dörfer gingen, um bei den Bauern das wahre Leben zu suchen und für einen Ursozialismus kollektivistischer Prägung zu agitieren. Eine Bewegung, die von wenig Erfolg gekrönt war, die Bauern interessierte das alles nicht sonderlich. Ganz ähnlich möchten Narod Niki zu neuen Formen musikalischer Kooperation gelangen, die auf der einen Seite mit den technischen Möglichkeiten des File-Sharings Ernst macht, zum anderen eine offene soziale Situation zur künstlerischen Innovation nutzt. Musiker-Sprech dafür, das zu tun, was man möchte – wobei es festzustellen gilt, dass es gerade in der elektronischen Musik schon wesentlich schlimmere konzeptionelle Überformungen gab als die Idee, sich auf der Suche nach dem wahren Leben an präbolschewistischen Revolutionären zu orientieren.

Wunderbarerweise funktionierte gerade dies: wie in einem Cyberpunk-Szenario kam man sich vor zwischen den Wellblechhütten mit den leuchtenden Äpfeln im zweiten Stock. Und dass es eben kein Flughafen-Hangar, sondern Theaterkulissen waren, trug noch einmal eine ganz eigene Wahrheit mit sich, die durch den Umstand gedoppelt wurde, dass diese Kulissen sonst für Frank Castorfs Inszenierung von Dostojewskis „Der Idiot“ dienen. Also vom Russland des späten 19. Jahrhunderts sowieso nicht allzu weit entfernt sind.