Himmel oder Menschen

von WOLFGANG ENGLER

Der Schauspieler und Theaterleiter Peter Sodann hat die Zukunft, die die Ostdeutschen erwartete, wären sie 1989 nicht auf die Straße gegangen, unlängst in düstere Worte gefasst: „Wir hätten wohl bald in Zelten leben müssen!“ Dabei dachte er vor allem an die Innenstädte, die in den letzten Jahren der Honecker-Ära beängstigend verfielen, an Halle, Dresden-Neustadt, an den Leipziger Osten. Hier war die DDR sichtlich am Ende.

Hier war sie im übertragenen Wortsinn aber auch zu Ende. Die urbanen Brachen zogen all jene magisch an, die mit der offiziellen DDR gebrochen hatten, nach anderen Lebens- und Ausdrucksweisen suchten oder nach einem letzten Quartier vor der Ausreise. Mit seinem eigenen Überleben hinlänglich beschäftigt, hatte sich der Staat aus diesen Gebieten zurückgezogen und nur ein paar Beobachtungsposten zurückgelassen, die die Milieus ausspähten.

Mit der Wende kam die eigentliche Blütezeit dieser buntscheckigen Subkulturen. Im geschichtlichen Transit zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht erweiterten sie ihr Terrain, besetzten immer neue Häuser, ganze Wohnzeilen, und luden sich Aussteiger und „Verrückte“ aus der ganzen Welt zu Gast.

Besieht man sich die Orte heute, entdeckt man kaum noch Spuren der frühen Roaring Nineties. Wo die einstigen Wilden es sich leisten konnten, erwarben sie die Immobilien, wo nicht, zogen sie weiter, zur nächsten Brache oder gleich ins Dorf. In die innerstädtischen Kernzonen zogen wieder Ruhe und bürgerliche Sitten ein, Kaufmänner und Kauffrauen, Espresso und Geschäftsverkehr.

Was in der Zusammenschau am stärksten auffällt, ist die Verdichtung dieser Räume. Noch in den ersten Jahren nach dem Umbruch war der Hasselbachplatz in Magdeburg ein Platz lediglich dem Namen nach, wie viele seinesgleichen. Die Lücken, die der letzte Krieg in die Bebauung gerissen hatte, klafften immer noch und gaben den Blick ins Weite frei.

Jetzt trifft er ringsum wieder auf Gebäude, neu hergerichtet oder neu gebaut, so wie der Fußweg, der, sorgsam gepflastert, die Straße in ein engeres Bett zwingt; auch Sitzgelegenheiten gibt es jetzt und Bäume. Der Dresdener Altmarkt fängt Schritt und Ansicht auf dieselbe Weise ein: schmale Straßenführung, Randbebauung, Häuserfluchten bis hin zur Prager Straße. Die Provisorien des Übergangs, fliegende Händler, kleine Stände, schnelle Geschäfte im Vorübergehen, sind längst passee.

Im Einzelnen zeigt die Veränderung ostdeutscher Stadtlandschaften tausende Gesichter, im Wesentlichen folgt sie einem Grundsatz: Kampf der Leere, den regellosen Stadtpassagen, den ziellos schweifenden Blicken. Der Himmel über diesen Städten ist nicht mehr geteilt; er ist jetzt gleichsam abgeschafft, zusammen mit dem Horizont.

Um das Muster zu erkennen, das die Vielfalt dirigiert, ist Abstand unverzichtbar, und nichts ist der Abstandnahme förderlicher als der zeitliche Vergleich. Als die beiden westdeutschen Studenten Moritz Bauer und Jo Wickert 1991 zu einer fotografischen Recherche in das ostdeutsche Beitrittsgebiet reisten, geschah dies in der Absicht, später dorthin zurückzukehren und dem „Einst“ das „Jetzt“ hinzuzufügen. Sie glaubten, fünf Jahre seien ausreichend, den Prozess sichtbar zu machen, fanden bei der ersten Nachschau aber nicht genug Anhaltspunkte für greifbare Veränderungen, und so kam das Projekt erst 2003 zu einem vorläufigen Abschluss. Vorläufig insofern, als weitere Erkundungen geplant sind.

Der Ertrag ihrer Prozessstudie ist schon jetzt bemerkenswert, gerade deshalb, weil sie nichts beweisen wollen, weder das Ge- noch das Misslingen des Umbaus Ost. Wenn die Reportage überhaupt eine Wahrheit vermittelt, dann liegt sie in Abstufungen, Zwischentönen, im Sowohl-als-auch.

Die Mehrzahl der doppelseitigen Abbildungen bestätigt die stillschweigende Erwartung des Betrachters. Links das städtebauliche Erbe der DDR, rechts der aufgemöbelte Zustand zwölf Jahre später und nach unermesslichen Transferzahlungen von West nach Ost. Straßen, Brücken, Schienentrassen, Fußgänger- und Fahrradwege, Kreuzungen und Ampeln: aus Alt wird Neu, und überwiegend überzeugt das Neue als das Bessere. Überwiegend, nicht überall. Die Telefonzellen der Telekom, im Design der Interregiozüge, nehmen sich gegen die gelben Fernsprechhäuschen der alten Post billig und geschmacklos aus, wie Fliegenpilze vor dem Regen, und die Fassaden renovierter Neubauten wirken oft wie Attrappen.

Wie in der Magdeburger Straße in Schönebeck verschmieren sie das Kantige der Plattenbauten, ihre Raster und Strukturen mit einer Anmut, die dem Heimatfilm entstiegen scheint, oder ruinieren, wie im Fall des Oderturms in Frankfurt, die klare bauliche Ansprache durch umlaufende Bauchbinden; Blendwerk ohne Sinn und Zweck, „Baukunst“ statt industrieller Architektur mit ausgeprägtem Hang zur Abgeschiedenheit. Der ehemalige Leninplatz in Stendal heißt heute (wieder?) Nachtigallplatz, na bitte!

Nicht wenige Darstellungen in dem Band verunsichern das Zeitgefühl. Entweder hat sich im Verlauf der Jahre nichts geändert, früher Abbruch, heute Abbruch, oder der Verfall hat sich sogar beschleunigt, so dass man meint, das später aufgenommene Bild, das auf der rechten Seite, zeige die früheren Verhältnisse. Das Lichtspieltheater der Jugend in Frankfurt/Oder, 2003 aufgenommen, gibt ein Exempel für die Rücknahme urbanen Lebens im Vorwärtsschreiten. Nicht zu vergessen jene Winkel, in denen der „Fortschritt“ im Übermut der Wendejahre für einen Lidschlag Logis genommen hatte, um sich alsbald wieder davonzustehlen; dann ist der Stadtraum dunkel, sehr dunkel – die Dessauer Johannisstraße.

Was im Osten Deutschlands klarer als im Westen in die Augen fällt, das ist die Eigenzeit der Orte, der jähe Wechsel von Zukunft und Vergangenheit, von „immerfort“ und „nimmermehr“. Hier prallen Peripherie und Metropole hart, weil ohne jeden Übergang zusammen; schon hinter der nächsten Kurve beginnt das Niemandsland.

Die gravierendsten Veränderungen betreffen die in die Städte eingelassene Industrielandschaft. „Die einstmals in sie eingelassene“, müsste es vollständig heißen, denn die ist nun weithin verschwunden. Seit der Wiedervereinigung liegt die Verdichtung des urbanen Raums im Streit mit ihrem Gegenteil, mit dem Wachsen neuer Brachen, Freiflächen, Standorte, für die sich keine neue Bestimmung findet, die von der Natur zurückerobert werden.

Der Güterbahnhof an der Planckstraße in Magdeburg – planiert, begrünt, als wäre dort nie etwas gewesen; das Portal zum großen Chemiewerk im Schkopau – es weist auf einen leeren Acker. Hier könnte man den Himmel sehen, doch ist da keiner mehr, zu ihm emporzuschauen.

Die heutige Ansicht der Fabrikstraße in Stendal bringt das Dilemma auf den Punkt: Arbeitsgesellschaft im Dornröschenschlaf, und kein Erlöser auf dem Weg, sie wachzuküssen. Definitives Ende der Jahrhunderte währenden Zusammengehörigkeit von Gewerbefleiß, Bürgersinn und städtischem Leben.

Diese Städte neu zu gründen, müssen die Menschen, die sie bewohnen, neue Gründe für ihr Zusammenleben finden. Der Himmel scheidet dafür aus; der leuchtet auf dem Land viel klarer.

Moritz Bauer und Jo Wickert: „Vorwärts immer, rückwärts nimmer. 4.000 Tage BRD“. Nicolai Verlag, 14,90 €