„Eine Muse war ich nicht“

Christine Becker

„Wenn er das Gefühl hatte, dass ich im Recht war, er aber nicht wusste, wie er aus dem Schlamassel herauskommt, dann hat er mich fürchterlich beschimpft. Die meisten meiner Vorschläge hat er später aber übernommen“„Oft hat er mich auch benutzt, um Meinungen zu testen. Er war immer politisch – nicht nur interessiert, auch engagiert. Bevor er damit an die Öffentlichkeit ging, musste er eine Idee, ein Argument ausprobieren“

Mutter, Drehbuchautorin, Publizistin, Wahlberlinerin. Sie, 44, hat den international bekannten Schriftsteller Jurek Becker die letzten 14 Jahre seines Lebens begleitet. Der schrieb in dieser Zeit die Welterfolge „Jakob der Lügner“ und „Bronsteins Kinder“. Zudem setzte er mit einer der erfolgreichsten deutschen Fernsehserien seinem Kiez ein Denkmal: „Liebling Kreuzberg“, mit Manfred Krug in der Hauptrolle. Jurek Becker, der ein bewegtes Leben als KZ-Überlebender, DDR-Bürger und linker Kritiker geführt hatte, starb vor sieben Jahren an Krebs. Christine Becker, die ein stilleres Leben als Frau an seiner Seite und Mutter des gemeinsamen Sohnes hatte, gibt nun Beckers Briefe aus drei Jahrzehnten als Buch heraus.

INTERVIEW OLIVER TRENKAMP

taz: War es schwer oder schmerzhaft für Sie, sich mit Jurek Beckers Briefen zu beschäftigen?

Christine Becker: Für mich war das zunächst kein „Nachlass“, das waren seine Unterlagen, seine Papiere, die Schulhefte, in die er seine Romane skizzierte. Zuerst schien mir die Arbeit quälend zu sein, ich hätte gern alles gelassen, wie es war. Bald kamen aber Anfragen und ich musste mich damit beschäftigen. Das Archiv der Akademie der Künste übernahm sämtliche Unterlagen. Sie hatten aber nicht immer Titel und Jahreszahl. Dass ich mich selbst um solche Fragen kümmerte, war nicht schlecht: Ich konnte die Texte oft schnell und eindeutig zuordnen, weil ich Jureks Arbeit, seine Projekte, seine Reisen und Verabredungen kannte.

In dem Buch finden sich ausschließlich Briefe. Gab es keine unveröffentlichten Romane? Keine Kurzgeschichten oder Konzepte für Fernsehserien?

Ich habe ausgeschlossen, etwas Unfertiges aus dem Nachlass hervorzuzerren. Was nur in den Schubladen lag, war tabu. Was Jurek schon einmal abgesegnet hatte, was den Schreibtisch schon einmal verlassen hatte, das waren die Briefe. Mit denen hatte er sich sehr viel Mühe gegeben. Er schrieb die meisten seiner Briefe zunächst im Konzept. Was die Briefpartner bekamen, war also schon eine überarbeitete Fassung.

Was gab es denn Unfertiges?

Es fand sich nur ein größerer unveröffentlichter Prosatext, der als unvollendet bezeichnet werden kann: ein „Fußball-Roman“, den er einmal für den Deutschlandfunk vorgelesen hat. Das ist die einzige größere Arbeit, die er abgebrochen hat. Beim Romanschreiben hat er sich immer lang genug zuvor mit einer Idee beschäftigt. Er wusste dann, dass ein Stoff Bestand hat und sich eine zweijährige Arbeit daran lohnt.

Das Buch enthält Briefe an Prominente wie Günter Grass oder Stefan Heym. Wie kompliziert war es, an all die Briefe heranzukommen?

Es war ein enormer Aufwand, viel Schreibarbeit für mich und meine Mitherausgeberin. Alles in allem hat es zwei Jahre gedauert. Die meisten Briefpartner standen uns mit Wohlwollen gegenüber. Einige konnten sich gar nicht an Briefe von Jurek erinnern – das hat mich einigermaßen empört (lacht). Wirklich ärgerlich war ein Missverständnis mit einem Spiegel-Redakteur. Der dachte wohl, wir wollten einen Brief von ihm an Jurek veröffentlichen. In diesem Brief zog der Mann so über den Spiegel her, dass er wahrscheinlich Angst vor Ärger mit seinem Arbeitgeber hatte. Wir wollten ja nur Briefe von Jurek, nicht an ihn, herausgeben. Sonst gab es keine aggressiven Reaktionen.

Sie haben früher selbst Drehbücher geschrieben. Standen Sie dabei nicht im Schatten Ihres Mannes?

Nein, ich bin ja nie konkurrierend zu ihm aufgetreten. Die Drehbücher waren für mich ein Versuch, ein Abenteuer. Eine Freundin und ich empfanden den Schrott im deutschen Vorabendprogramm als so niveaulos, dass wir es besser machen wollten. Wir wollten wissen: Kommt man im Fernsehen unter, wenn man das Niveau anhebt?

Und, wie war das Ergebnis?

Das Ergebnis war: nein! Wir haben die Bücher zwar verkauft, sie wurden aber nie produziert. Es kann natürlich auch an anderen Dingen gelegen haben, jedenfalls waren wir nicht erfolgreich.

Hat Ihr Mann sie dabei unterstützt oder kritisiert?

Die positivste Kritik war, dass er uns beklaut hat. Er hat mir auch gesagt, dass wir das Zeug zum Drehbuchschreiben hätten, und mich ermutigt weiterzumachen. Allerdings: Als ich ihn einmal auf den Diebstahl aufmerksam machte, ist er ganz unzeitgemäß für einen Moment zum Macho geworden und sagte, „wer verdient denn bei uns das Geld“?

Sie den Haushalt, er das Geldverdienen und den Ruhm?

Nein, so nicht. Er verdiente zwar das Geld, war aber auch für Einkauf und Kochen zuständig. Als wir uns kennen lernten, steckte ich noch mitten in der Ausbildung, er war schon ein gemachter Mann, wie man so sagt. Das war natürlich sehr bequem: Ich konnte studieren und musste nichts dazuverdienen. Gleich nach dem Studium, während meines ersten Lehrauftrages, kündigte sich dann das Kind an.

Was wollten Sie selbst ursprünglich beruflich machen?

Ich habe Verlagsbuchhändlerin gelernt, weil es so aussah, dass ich den kleinen wissenschaftlichen Verlag meines Vaters übernehmen würde. Dazu kam es nicht. Als wir später das Kind hatten, musste ich mich Jurek gegenüber verteidigen, wenn ich arbeiten wollte. Er rechnete mir vor, dass die Kinderbetreuung mehr kostet, als ich nach Hause bringe. Ich habe mich, wohl nicht ungern, überzeugen lassen. Als wir 1996 von Jureks Krankheit erfuhren, war mir ein neuer Lebensabschnitt vorgezeichnet, mich um seine Dinge zu kümmern. Ich bin nicht mehr dazu gekommen, mir eine neue berufliche Richtung zu suchen.

Ihr Leben wurde immer von äußeren Einflüssen bestimmt?

So ist es, ja. Ich bedaure das nicht.

Wie hat Jurek Becker gearbeitet?

Er hatte einen klar umrissenen Arbeitstag, den hat er zum Schreiben gebraucht. Er begann um neun und hörte frühestens um fünf auf. Wie ein Beamter, hat er immer gesagt. Wenn ihm nichts einfiel, wagte er nicht, den Tag abzubrechen. Pausen waren nur für wichtige Sportübertragungen erlaubt – und für das Kind. Er wollte nicht aus dem Arbeitszimmer kommen und davon überrascht werden, dass sein Sohn erwachsen geworden ist.

Waren Sie seine Muse?

Ich würde gern ja sagen. Ich finde, das ist etwas Schönes. Eine Muse im klassischen Sinne war ich aber nicht. Wir haben wahnsinnig viel Streit gehabt. Das war ein Zeitvertreib, der uns beiden sehr gefallen hat. Dennoch hat er in unserer Zeit sehr viel geschrieben, ich kann ihm also nicht allzu sehr geschadet haben.

Haben Sie Anteil an seinem Werk?

Ich bilde mir ein, dass ich für die beiden Romane „Bronsteins Kinder“ und „Amanda Herzlos“ eine Rolle gespielt habe. Er war begierig nach meiner Kritik. Er quittierte sie aber unterschiedlich.

Wie sah das aus?

Wenn er das Gefühl hatte, dass ich im Recht war, er aber nicht wusste, wie er aus dem Schlamassel herauskommt, dann hat er mich fürchterlich beschimpft. Die meisten meiner Vorschläge hat er später aber übernommen. Ungefähr 20 Prozent meiner Kritik hat er auch einfach abgeschmettert und gesagt: „Das ist für mich nicht relevant!“ Oft hat er mich auch benutzt, um Meinungen zu testen. Er war immer politisch – nicht nur interessiert, auch engagiert. Bevor er damit an die Öffentlichkeit ging, musste er eine Idee, ein Argument ausprobieren.

Beeinflussten seine öffentlichen politischen Äußerungen Ihr gemeinsames Privatleben?

Es gab jedenfalls keine bedrohlichen Anfeindungen. Angst hatte ich nur einmal, als er sich im Fernsehen gegen das Todesurteil über Salman Rushdie aussprach. Noch vor meiner Zeit wurde er angefeindet – kurz nachdem er die DDR verlassen hatte und begann, den Westen und den Kapitalismus zu kritisieren. Die Leute verstanden nicht, wie man als in West-Berlin lebender DDR-Bürger gleichzeitig Repressionen im Osten und Ungerechtigkeiten im Westen kritisieren konnte.

Ihr Mann hat dem Bezirk Kreuzberg ein Denkmal gesetzt – mit der Erfolgsserie „Liebling Kreuzberg“. Was bedeutete der Bezirk für Sie und Ihren Mann?

Es war eher Zufall, dass Jurek die Wohnung in Kreuzberg 61 bekam. Zu einem Anhänger des Viertels wurde er erst dann – vor allem von diesem eher braven Kreuzberg. Als Einkäufer liebte er den Kiez mit den kleinen Lädchen.

Wurde er denn erkannt?

In Kreuzberg eigentlich nie. Es gab aber lustige Kreuzberger Momente. Einmal, als er in der Marheineke-Markthalle einkaufen war, sprach ein Händler sehr merkwürdig mit ihm, in überdeutlichem Deutsch, dazu weit ausholend gestikulierend. Es stellte sich heraus, dass er Jurek für einen Türken gehalten hatte.

Hatte er Angst vor dem wilderen Kreuzberg 36?

Nein, das nicht. Er brauchte aber Abgeschiedenheit und Ruhe. Die hatte er bei uns im Viertel meistens. Einmal haben ein paar Jungs vor seinem Fenster ihre Mopeds aufheulen lassen. Jurek hat sich buchstäblich mit denen geprügelt. Er war jemand, der Ruhe brauchte und gleichzeitig cholerisch war.

Sie haben gesagt, dass Streit für Sie beide wichtig war. War Streit auch sein Antriebsmotor?

So lässt sich das nicht sagen. Er hätte sich jedenfalls nicht täglich mit Konfliktsituationen auf der Straße auseinander setzen wollen. Davor gedrückt hat er sich aber nicht. Er unterhielt sich oft mit Leuten bei uns auf der Straße. Aber er wollte die Wahl haben, ob er sich darauf einlässt oder nicht.

Jurek Becker hat einmal geschrieben, dass „einer, der sich nirgendwo hingezogen fühlt, am bequemsten gleich da bleiben kann, wo er gerade ist“. Galt das für ihn?

Er mochte Kreuzberg. Der Satz traf auf seinen Vater zu, der nach dem Krieg nicht mehr dahin wollte, wo er herkam. Für Jurek wäre es ausgeschlossen gewesen, länger außerhalb des deutschsprachigen Raumes zu leben. Deutsch war für ihn ja ursprünglich eine Fremdsprache, in der er sich mit Mühe etabliert hat. Er hätte eine weitere sprachliche Irritation auf Dauer nicht ausgehalten. Ich konnte mich daher nie mit meiner Idee von einem kleinen Haus in Frankreich oder Italien durchsetzen. Es wurde Schleswig-Holstein. Das hat er auch allein entschieden.

Christine Becker & Joanna Obrusnik (Hrsg.): „Ihr Unvergleichlichen. Jurek Becker Briefe“. Suhrkamp, 24,80 €