Dieser Herbst wird kalt, nicht heiß

Der Kanzler kann beruhigt sein: Öffentlicher Protest gegen die Sozialreformen der Regierung droht von Ver.di nicht. Der frisch wiedergewählte Gewerkschaftschef Frank Bsirske will sich lieber „in die Entscheidungsprozesse der Politik einmischen“

aus Berlin THILO KNOTT

Ver.di-Chef Frank Bsirske hat der Reformpolitik der rot-grünen Bundesregierung den Kampf angesagt. Mit wechselnden Bündnissen werde sich die Dienstleistungsgewerkschaft gegen die geplanten Änderungen bei der Rente, dem Arbeitsmarkt und dem Gesundheitssystem stemmen, sagte Bsirske beim Ver.di-Bundeskongress gestern in Berlin. Einen Aufruf zu breiten öffentlichen Protestaktionen, etwa einem „heißen Herbst“, vermied der Ver.di-Chef während seiner 90-minütigen Grundsatzrede.

„Wir müssen uns in die Entscheidungsprozesse der Politik einmischen, wenn wir uns nicht zur Reparaturkolonne der Politik degradieren lassen wollen“, erklärte Bsirske in seiner äußerst nüchternen Rede. Angesichts des „strategischen Kurswechsels“ von Rot-Grün müsse Ver.di „das eigenes Profil schärfen“. Die Gewerkschaft sei bereit, mit Arbeitgebern und der Politik nach Lösungen zu suchen. Dialog und Mobilisierung seien aber auch in Zukunft keine Gegensätze. „Wir brauchen auch dann Handlungsoptionen, wenn Reden nicht reicht“, sagte Bsirske. Der Ver.di-Vorsitzende warf der Bundesregierung zudem den Verzicht auf Steuereinnahmen in Milliardenhöhe vor und bekräftigte seine Forderung nach Einführung einer Erbschafts- und Vermögensteuer. Der rot-grüne Kurs zerrütte weiter die Staatsfinanzen. Deutschland habe die zweitniedrigste Steuerquote aller Industrienationen. „Warum ist kein Geld für die Arbeitslosenhilfe, aber für die Steuersenkung des Spitzensteuersatzes da“, fragte Bsirske die 1.000 Delegierten und forderte mehr Steuergerechtigkeit. Während sich die Abgaben des „kleinen Mannes“, also Mehrwert- und Verbrauchersteuern, beständig erhöht hätten, seien die Steuern auf Gewinn und Vermögen seit 1980 um die Hälfte zurückgegangen. „Wer Ungerechtigkeit akzeptiert, der kapituliert vor seiner politischen Gestaltungsaufgabe“, sagte Bsirske, der am Dienstag mit 92,6 Prozent im Amt bestätigt wurde und die mit knapp 2,7 Millionen Mitgliedern europaweit größte Einzelgewerkschaft weitere vier Jahre führt.

Von Rot-Grün forderte Bsirske eine aktive Wachstums- und Beschäftigungspolitik. „Für einen echten Aufschwung muss endlich die Binnennachfrage steigen“, erklärte der Ver.di-Chef. Wenn den privaten Haushalten durch Hartz- und Gesundheitsreform allerdings immer mehr Geld entzogen werde, funktioniere das nicht. Bsirske verlangte von der Bundesregierung ein Sofortprogramm von zunächst 20 Milliarden Euro für Investitionen in Arbeit, Bildung und Umwelt. Davon verspricht sich die Dienstleistungsgewerkschaft, die vor zwei Jahren aus fünf Einzelgewerkschaften hervorging, 500.000 neue Arbeitsplätze.

Kritik übte Bsirske auch am Kurs der CDU. Der Vorschlag von Parteichefin Angela Merkel zur Einführung einer Kopfpauschale bei der Krankenkasse sei sozial unausgewogen. Auch Einschnitte in die Tarifautonomie sowie die Forderung nach einem Rentenalter von 67 Jahren lehnte Bsirske ab.

Grünen-Vorsitzender Reinhard Bütikofer bot den Arbeitnehmervertretern Gespräche über die geplanten rot-grünen Sozialreformen an. Zugleich verteidigte er den Reformkurs der Regierung. Die Kompromisse seien in seinen Augen die bestmöglichen, erklärte Bütikofer, der sich damit lautstarken Protest der rund 1.000 Ver.di-Delegierten zuzog und seine Rede unterbrechen musste.

Bis Samstag werden die Delegierten im Berliner ICC noch beraten. 1.000 Anträge, die sich mit den Arbeits- und Sozialreformen der Bundesregierung, aber auch mit dem Umbau ihrer eigenen Organisation beschäftigen, standen zur Abstimmung an.