Schrauben als Therapie

Seit 20 Jahren betreut der Verein „Der Steg“ psychisch kranke Jugendliche. In einer Werkstatt lernen sie Anforderungen des Joballtags kennen. Schon das morgendliche Hallo kann ein Fortschritt sein

von MEIKE RÖHRIG

„Kommt regelmäßig und mit steigender Frequenz zur Arbeit.“ Wenn Christian Sons das über einen seiner Mitarbeiter sagen kann, ist er hoch zufrieden. Pünktlichkeit und tägliches Erscheinen, an jedem normalen Arbeitsplatz eine Selbstverständlichkeit, sind für seine Klientel eine echte Leistung. Der Diplomingenieur leitet zusammen mit der Sozialpädagogin Carola Kalbitz eine Werkstatt für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung. Betreiber ist der gemeinnützige Verein „Der Steg“, der sich in Berlin um psychisch kranke junge Menschen kümmert – und in diesen Tagen sein 20. Jubiläum feiert.

Von Suchtproblemen bis hin zu Depressionen kämpfen die Werkstattmitarbeiter mit allen Formen von psychischen Erkrankungen und schaffen es deshalb meist nicht, dem Leistungsdruck auf dem freien Arbeitsmarkt standzuhalten. „Andererseits sind sie aber zu viel mehr in der Lage als zu bloßer Arbeitstherapie“, sagt Sons. So entstand die Idee eines Recyclingbetriebs für Elektroschrott.

Im weiß gekachelten Küchentrakt des ehemaligen Humboldt-Klinikums in Reinickendorf nehmen seit 1997 psychisch kranke Mitarbeiter alle Arten von Elektrogeräten auseinander. Ob Mikrowelle, Waschmaschine oder Laserdrucker, sogar Ölradiatoren werden hier fachgerecht zerlegt, sortiert und recycelt.

Das Arbeitspensum ist dabei nebensächlich. „Es geht vor allem darum, die Leute zu stabilieren, indem man wieder eine Struktur in ihren Alltag bringt“, erklärt Werkstattsleiter Sons. Außerdem leiden viele unter Vereinsamung. Der regelmäßige Kontakt mit den Kollegen soll dem entgegenwirken und die Kommunikationsbereitschaft fördern. Schon ein morgendliches knappes Hallo, das Bedanken nach einer Handreichung, wertet Sons als Erfolg.

48 Menschen, vor allem junge Männer, teilen sich zur Zeit die 20 Arbeitsplätze. Manche kommen nur eine Stunde pro Tag, andere arbeiten ganztags – je nachdem, was ihr psychischer Zustand zulässt. Die Grundfertigkeiten können sie in zwei Wochen lernen. Voraussetzung ist der Wunsch der Klienten zur Mitarbeit sowie eine gewisse Unempfindlichkeit gegenüber Dreck und Lärm.

Neben der Recyclingwerkstatt betreibt der Verein mehrere Projekte. „Der Steg“ wurde 1983 gegründet. Hintergrund war die Enthospitalisierung, also der Ansatz, psychisch Kranke nicht mehr in Kliniken wegzusperren.

Schwerpunkt der Vereinsarbeit ist das betreute Wohnen. Vier therapeutische Wohngruppen für Jugendliche zwischen 12 und 21 Jahren und ebenso viele betreute WGs für junge Erwachsene bis 27 Jahren unterhält der Verein in Pankow, Reinickendorf und Neukölln. In diesen Wohngruppen leben drei bis sechs Jugendliche gemeinsam mit Erziehern und Therapeuten.

Für psychisch beeinträchtigte Jugendliche, die allein oder bei ihren Eltern wohnen, bietet der Verein ambulante Erziehungshilfen und familientherapeutische Gespäche an. So genannte Sozialassistenzen unterstützen die Eltern bei der Pflege behinderter Kinder.

Das Geld ist wie bei allen Sozialprojekten knapp: Gerade hat das Arbeitsamt einem Berufsvorbereitungslehrgang für psychisch kranke Jugendliche in der Recyclingwerkstatt die Unterstützung gestrichen – obwohl es den Sozialarbeitern gelungen war, 18 hoch problematische Jugendliche ein Jahr lang bei der Sache zu halten.

Heute feiert der Verein ab 10 Uhr seinen Geburtstag in der Teichstraße 65 in Reinickendorf. Die „Steg“-Vorsitzende Heidi Bill will die Veranstaltung auch nutzen, um Sponsoren und potenzielle Kunden anzusprechen. Für die Recyclingwerkstatt verfolgen sie und die Werkstattleitung ein ehrgeiziges Ziel: die wirtschaftliche Selbstständigkeit ohne Kofinanzierung. Dazu fehlen noch 93.000 Euro pro Jahr. Aber das Recycling sei eine expandierende Branche, gibt sich Werkstattleiter Sons optimistisch. „Außerdem haben wir uns in den letzten Jahren durch Qualität einen Namen geschaffen.“