Eine verloren gegangene Kultur

Es gab nicht nur die Azteken, Mayas und Inkas in Lateinamerika. Im Amazonasgebiet entdeckten Archäologen jetzt die Überreste einer vor langer Zeit untergegangenen und in Vergessenheit geratenen präkolumbianischen Kultur

Auch Indizien für Kanäle, Brücken und Stauseen haben die Forscher ausgemacht

Azteken, Mayas und Inkas waren die einzigen indigenen Hochkulturen auf dem amerikanischen Kontinent – so lernt es noch heute jedes Schulkind. Das präkolumbianische Amazonien hingegen gilt noch immer als Inbegriff unberührter Natur, wo höchstens Nomaden auf einem sehr niedrigen Entwicklungsstand wohnten.

Für größere menschliche Siedlungen sei das tropische Amazonastiefland mit seinen gelben, nährstoffarmen Böden schlicht ungeeignet gewesen, lautete in den letzten 50 Jahren die herrschende Meinung, die die US-Archäologin Betty Meggers maßgeblich mitgeprägt hat. Nomadisierende Völker hätten sich in Dörfern mit 100 Einwohnern niedergelassen, sagte die heute 81-Jährige noch vor kurzem: „Oder sollen wir glauben, die Ureinwohner hatten ein Geheimnis für eine nachhaltige Landwirtschaft, die wir mit all unserer millionenschweren Technologie nicht haben entdecken können?“

Nun sind zwei Forscherteams unabhängig voneinander zu gegenteiligen Befunden gekommen. Bei Ausgrabungen 30 Kilometer westlich von Manaus stieß der Brasilianer Eduardo Góes Neves auf 70 archäologische Stätten, die er bis zu 8.000 Jahre zurückdatieren konnte. Prunkstück ist eine 7.700 Jahre alte Speerspitze aus rosa-grauem Feuerstein. „Wir weisen einen kontinuierlichen Siedlungsprozess in Amazonien nach, der vor gut 11.000 Jahren angefangen hat und vor 2.500 Jahren in einer demographischen und kulturellen Explosion kulminiert ist“, sagt Neves. Manche klar begrenzten Gegenden in Zentralamazonien seien über Jahrzehnte hinweg von tausenden Menschen bewohnt gewesen.

Im Juli stießen Arbeiter der Wasserwerke mitten in Manaus auf eine Schicht schwarzer Erde auf drei 1.000 bis 1.200 Jahre alten Graburnen. Ähnliche Urnen habe vor 40 Jahren der deutsche Archäologe Peter Hilbert gefunden, ein „Pionier, der schon damals von komplexen Gesellschaften in Amazonien sprach“, so Neves. Die Keramikfunde und die sedimentreiche schwarze Erde, die aus Tier- oder Pflanzenresten und menschlichen Exkrementen entstanden ist, deuten Forscher wie Neves schon länger als Hinweise auf sesshafte, arbeitsteilige Gesellschaften.

Noch Aufsehen erregender ist die Studie, die ein Team unter Leitung des US-Forschers Michael Heckenberger vor kurzem in der Zeitschrift Science veröffentlichte. Im Norden des Bundesstaats Mato Grosso, wo heute gut 400 Kuikuro-Indianer wohnen, stießen die Archäologen mit Hilfe zweier Kuikuros auf die Reste von 19 kreisförmigen Siedlungen aus dem 13. bis zum 17. Jahrhundert. In den größten Dörfern, die von fünf Meter tiefen Gräben und Schutzwällen umgeben waren, könnten jeweils 2.500 bis 5.000 Menschen gewohnt haben, schätzt Heckenberger. Das Gebiet am Alto Xingu ist 400 Quadratkilometer groß.

Die zentralen, drei bis fünf Kilometer auseinander gelegenen Dorfplätze waren durch schnurgerade, bis zu 50 Meter breite, am Lauf der Sonne ausgerichtete Straßen verbunden. Satellitenbilder belegen dies eindrucksvoll. Auch Indizien für Kanäle, Brücken und Stauseen haben die Forscher ausgemacht. „Dieses Volk hatte eine horizontale Monumentalität“, schwärmt der Anthropologe Carlos Fausto.

Auf dem heute wieder bewaldeten Gebiet hätten die damaligen Bewohner eine nachhaltige Landwirtschaft mit Sekundärwald, Obstbäumen oder Maniokfeldern betrieben, vermuten die Archäologen. Für Heckenberger hat diese Art einer „alternativen Urbanisierung“ wenig mit den sagenumwobenen „verlorenen Städten“ Amazoniens zu tun – die begeisterte Schilderung einer riesigen Stadt, die der spanische Konquistador Francisco de Arellana 1542 im westlichen Amazonien gesehen haben wollte, begründete eine Variante des Eldorado-Mythos. Auch im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Kulturen seien die Siedlungen am Alto Xingu trotz der „ausgefeilten mathematischen und astronomischen Kenntnisse“ ihrer Bewohner nicht sensationell, räumt Heckenberger ein, „aber in Amazonien hat niemand so etwas erwartet“.

GERHARD DILGER