Lob der Sekundärtugenden

Gespaltenes Echo nach Lehrstellenbilanz im Norden: Während Kammern und Wirtschaft mehr Ausbildungsplätze bejubeln, sprechen Gewerkschaften von „Schönrechnerei“

„Wir wissen, dass die jungen Damen heute besonders viel Power haben“

Hamburg taz ■ Gestern schlug wieder einmal die Stunde der ritualisierten Balgerei: Ein und dieselbe Lehrstellenbilanz wurde von Wirtschaft und Kammern in den norddeutschen Bundesländern als Erfolg verkauft – und von den Gewerkschaften gallig-geharnischt als „Flopp“ und „Schönrechnerei“ niedergemacht. Nachdem die Bundesregierung im Juni in letzter Sekunde davor zurückgeschreckt war, den Unternehmen durch eine Ausbildungsabgabe Daumenschrauben anzulegen, hatte man sich auf einen freiwilligen „Ausbildungspakt“ verständigt – die Wirtschaft sagte zu, viele neue Lehrstellen zu schaffen.

Die nackten Zahlen drei Monate später: In Schleswig-Holstein suchten Ende September immer noch 803 junge Menschen einen Ausbildungsplatz. Niedersachsen meldet 2.806 Jugendliche, die noch nicht vermittelt werden konnten, Bremen 290 und Hamburg 811. Die Diskrepanz zwischen den nicht versorgten Bewerbern und noch offenen Stellen hat sich im Vergleich zum Vorjahr vergrößert. Beredt werden „Nachvermittlungsaktionen“, „Einstiegsqualifizierungen“ und „Kompetenzchecks“ angekündigt.

In Hamburg schwärmte der Präsident der Handwerkskammer, Peter Becker, gar von einem „Super-Ergebnis“. 548 neue Lehrstellen habe allein das Hamburger Handwerk geschaffen, das seien 11,5 Prozent mehr als im Vorjahr – damit habe man das vom Ausbildungspakt vorgeschriebene Soll übererfüllt. Allerdings räumte Becker ein, dass 30 Prozent der neuen Lehrlinge nicht aus Hamburger Schulen kämen, sondern aus anderen Bundesländern. „Die jungen Leute aus ländlicheren Gebieten sind in ihrem Verhalten oft stabiler als Jugendliche aus der Stadt.“ Besonders die „Sekundärtugenden“ wie Pünktlichkeit und Ordnung seien bei ersteren stärker ausgeprägt. Becker riet den Hamburger Schulen, ihre Ausbildung zu verbessern: „Man kann den Schülern doch keinen Vorwurf machen, wenn die Ausbildung so schlecht war, dass sie niemand haben will.“

Die Jugendlichen forderte Becker auf, „ihr Interesse breiter aufzustellen“. Noch beobachte er ein „sehr tradiertes Rollenverhalten“ und „viel zu konservative Vorstellungen“, barmte der Handwerkskammer-Chef: „Wir wissen doch, dass die jungen Damen heute besonders viel Power haben – jedes Mädchen kann jeden Beruf lernen.“

Im Verantwortungsbereich der Hamburger Handelskammer, wo in diesem Jahr bereits 7.800 neue Ausbildungsverhältnisse abgeschlossen wurden, seien sogar 50 Prozent mit Bewerbern aus dem Umland besetzt worden, hieß es.

Unterdessen beharren die Gewerkschaften gusseisern auf einer „Ausbildungsumlage“. Wolle die Bundesregierung wirklich mehr Betriebe für die berufliche Erstausbildung gewinnen und „gleichzeitig die ausufernde öffentliche Alimentierung des deutschen Berufsbildungssystems einschränken“, führe kein Weg an der Zwangsabgabe vorbei, sagte der Vorsitzende des DGB Nord, Peter Deutschland.

Handwerkskammer-Mann Becker antwortet darauf mit dem trockenen Verweis auf Erfahrungen mit der Schwerbehindertenabgabe: „Solche Drohungen greifen überhaupt nicht: Betriebe zahlen eher als sich von unsinnigen Gesetzen drangsalieren zu lassen.“ Markus Jox