Westen des Orients

Stefan Weidner ist fasziniert von klugen, glaubensfesten Muslimen – und verteidigt Samuel Huntingtons Thesen

Wenn nicht noch etwas ganz Aufregendes passiert, ist es für mich das Buch des Jahres. Jedenfalls hat mich bis jetzt kein anderes so fasziniert und geärgert, so beschäftigt und erregt. Nicht nur eine Versuchung – eine gnadenlose Verführung, der ich erlegen bin.

Was ist das überhaupt? Kein Roman, kein Sachbuch – ein „erzählter Essay“ heißt es erklärend unter dem Titel. Eigentlich müsste es aber „eine Liebeserklärung statt eines Essays“ heißen, denn nur in der Liebe ist man so verwirrt, so klar, so vorsichtig, so stürmisch, so souverän und so kindisch.

Stefan Weidner ist das alles, und dazu noch hat er das Objekt seiner Begierden leidenschaftlich erforscht. Der Autor, Jahrgang 67, studierte Islamwissenschaften, Germanistik und Philosophie in Göttingen, Damaskus, Berkeley und Bonn. Zudem übersetzt er aus dem Arabischen. Verliebt hat er sich Mitte der Achtziger in Tunesien, als er für umgerechnet 20 Mark einen Koran erstand und las.

„Sommer 1985: Tunis und Sousse“ heißt das erste und schwächste Kapitel. Wie weiland Rimbaud spricht er von sich in der dritten Person, als sei „Ich“ ein anderer. Als sei der junge, unerfahrene Rucksackreisende, der da durch Tunesien und Marokko streift, ein anderer als der spätere Experte, der von Goethe-Instituten und arabischen Universitäten eingeladen wird. In dieser Rolle schreibt Weidner dann in den anderen Kapiteln etwas weniger prätentiös als „Ich“.

Seine Texte berichten von den Tagen vor und nach dem 11. September 2001; die Protagonisten sind unterschiedliche Bewohner der arabischen Welt, meistens Muslime und der Autor selbst als interessierter Vertreter des Westens. Bewegendes Thema bildet immer wieder Samuel Huntingtons umstrittene These vom „Clash of Civilizations“ und die Arbeit an der Verständigung zwischen Orient und Okzident, Westen und Islam – oder eben der vermeintliche Beweis, das dies unmöglich sei.

Nach dem 9. 11. trifft Weidner den Kulturdirektor von Annaba (Algerien). Der Mann wirft ihm, stellvertretend für den Westen, vor, die Deutschen und Franzosen hätten die Algerier im Stich gelassen, in dem sie islamistischen Mördern zu Tausenden Asyl gewährt hätten. In den westlichen Ländern hätten die Terroristen ihre Taten planen, Geld sammeln und sich ausruhen können. Diese Toleranz habe den algerischen Bürgerkrieg verlängert, wenn nicht überhaupt erst möglich gemacht.

Weidner wendet ein, dass dies vor dem 9. 11. nicht so klar gewesen wäre. Zudem sei das Asylrecht wertanschauungsneutral. Doch dieses Argument weist der Kulturdirektor zurück: Diese Neutralität könne man auch Gleichgültigkeit nennen, denn Algerien habe immer wieder vor solchen „Asylanten“ gewarnt.

Dass Westeuropa tatsächlich hätte mehr wissen können, glaubt auch Weidner. Sein ganzes Buch ist eine hochaktuelle Auseinandersetzung mit all den Fragen, die wir stellen: die seit 11. September zu spät Aufgewachten. Trotz aller Empathie verschweigt Weidner nicht die Furcht erregende Sympathie der Araber zu Nazideutschland. Ein populäre Legende lässt er sich von einem Syrer aus Aleppo erzählen. Sie besagt, dass Adolf Hitler die verhassten Franzosen geschlagen habe, die während des Zweiten Weltkrieges Syrien besetzt hielten, und danach zum Islam übergetreten sei. Er heiße nunmehr Mohammed Hitler. Wer hätte das gedacht?

Immer wieder kommt Weidner auf Huntingtons Thesen zurück, den er für einen der kühnsten, politischen Denker hält. Er sei nicht etwa derjenige, der die Situation heraufbeschworen habe, sondern derjenige, der eine sehr pointierte Lagebeschreibung abgebe. Die Abneigung gegen Huntington hält Weidner für eine Bestrafung des Boten, der die böse Nachricht überbringt. Wenn man ihn nur lange genug beschimpfe, so die Hoffnung, würde das Böse, das er beschreibe, nicht wahr werden.

Manche Abschnitte des Buches, wie das Kapitel „Nach 9/11: Kairo, Kairo und Kairo“ liest man mit hochgradiger Spannung. In ihm gibt der Autor ein Gespräch mit Absolventen der berühmt-berüchtigten Azhar-Universität wieder, das an intellektuellem Niveau seinesgleichen im Westen suchen muss und vielleicht vergleichbar mit den Kenntnissen der Jesuiten ist – Angst einflößend und beeindruckend zugleich. Diese Muslime lassen sich nicht auf tumbe fundamentalistische Bartträger reduzieren, sie kennen und beherrschen unsere Art zu denken und zu leben, und sie lehnen sie ab. Sehr klar, sehr kühl. Wir kennen ihre Lebensart kaum, wir verstehen sie nicht. Eine Begegnung, die mir zukunftsweisend scheint. Auch hier im Westen entwickeln die Islamisten ein schafspelziges Auftreten. Das und ihr unbestechlicher Glauben macht sie stärker, als wir es sind.

Immer wieder offenbart Weidners Buch die Ambivalenz, die Unsicherheit des Fremden unter diesen so Sicheren, fest im Glauben stehenden muselmanischen Brüdern, manchmal sogar auch Schwestern. Er gibt es mit Wahrhaftigkeit und Herzblut wieder. Geradezu muslimisch.

RENÉE ZUCKER

Stefan Weidner: „Mohammedanische Versuchungen. Ein erzählter Essay“. Amman Verlag, Zürich 2004. 240 Seiten, 18,90 Euro