Schwungvolle Vorlage

Eine Beschwörung der weiblichen Teilhabe am religiösen Leben und der sexuellen Selbstbestimmung der Frau: „Der Honig“, das Debüt der in Beirut geborenen und in London lebenden Zeina B Ghandour

Ghandour vermag ihren komplexen Stoff in poetische Bilder zu bannen

von KATHARINA GRANZIN

Ein kleines palästinensisches Dorf in der Wüste. Es ist wie jedes andere. Bis zu jenem Tag, an dem der Muezzin krank wird und eine Frau, seine Tochter Ruhiya, an seiner Stelle zum Morgengebet ruft. Und nicht genug der Übertretung dieses einen Verbots, richtet Ruhiya ihren Gesang nicht gen Mekka, sondern nach Jerusalem – in dieselbe Richtung, in die auch der Prophet gebetet hat. Der zweite Tabubruch motiviert den ersten mit; denn während das Mädchen die Treppe zum Minarett hochsteigt, ist ihr Geliebter in der Heiligen Stadt, um dort zu sterben. Yehya, der Sohn des Nachbarn, ist ihr inzwischen durch seine radikale Religiosität entfremdet, und dennoch weiß sie: „ […] dass ich mit Yehya leben und sterben würde, dass ein gemeinsames Leben auf dieser Erde nicht reichte und dass vielleicht die Ewigkeit, vielleicht der Himmel unserer Liebe gerecht werden würde.“

Diese Liebe ist ebenso Symbol wie das, was im selben Moment passiert, in dem Ruhiyas Gebet erklingt. Ein Selbstmordattentäter sprengt sich in die Luft. Doch es ist nicht Yehya, sondern ein anderer. Yehya dagegen, zurückgerufen von Ruhiyas Gesang, besinnt sich und flieht.

„Der Honig“ ist der erste Roman der in Beirut geborenen und in London lebenden Zeina B Ghandour. Er handelt von den Tabus einer Gesellschaft, die, nach außen unfrei, in ihrem Inneren eigene, unüberwindlich scheinende Zwänge tradiert. Es ist dabei nicht Ghandours primäres Anliegen, eine spannende Geschichte zu erzählen, obwohl das Sujet reichlich Material für einen konflikt- und spannungsreichen Gesellschafts- und Liebesroman hergäbe.

Ghandour zielt über das Konkrete hinaus, nähert sich ihrem brisanten Stoff in stark lyrisch inspirierter, anspielungsreicher Prosa. Aus unterschiedlicher Perspektive lässt sie allein die Figuren sprechen und öffnet auf diese Weise viele verschiedene Fensterchen auf das Geschehen. Die sprechenden Namen, die ihre Figuren tragen, machen dabei deutlich, dass eine Art Gleichnis erzählt wird. Ruhiya, deren Name „spirituelle oder seelenvolle Frau“ bedeutet, ist entstanden aus der Vergewaltigung ihrer Mutter, der Christin Hurrah („freie Frau“), durch ihren Nachbarn. Das macht das Mädchen zur Schwester ihres Geliebten Yehya („Leben“).

Die gewalttätige Seite des Islam und die scheinbar religiös motivierte Unterdrückung der Frau finden sich in dieser Konstellation zusammengefasst, unterliegen in Ghandours Erzählung jedoch der spirituellen, friedliebenden Seite. Dabei ist nicht Ruhiya die größte Hoffnungsträgerin. Es ist Yehya, der sich vom Möchtegernmärtyrer in eine Figur mit messianischen Zügen wandelt.

Keine radikale feministische Wende im Islam wird hier beschworen, wohl aber die weibliche Teilhabe am religiösen Leben und die sexuelle Selbstbestimmung der Frau. Denn die Erzählung lässt sich problemlos auch konkret an den Ereignissen entlang lesen. Für diese Lesart führt Ghandour die Figur einer Journalistin ein, deren Außenseiterperspektive einen unverschleierten Blick erlaubt und deren freizügige Lebensweise mit der Situation der palästinensischen Dorffrauen kontrastiert wird. Dass sich bei der Begegnung der Frauen trotz aller Unterschiede Momente der weiblichen Solidarität einstellen, ist eine unnötige plakative Überverdeutlichung.

Denn das Vermögen der Autorin, ihren komplexen Stoff in eindrückliche, poetische Bilder zu bannen, ist erstaunlich. Doch es bleibt, wenn man – viel zu schnell – fertig ist, das Gefühl, da könnte und müsste noch mehr gesagt werden – so als würde man eine schöne, schwungvolle, doch nicht in allen Feinheiten ausgeformte Skizze betrachten, die als Vorarbeit für ein größeres Gemälde gedacht ist. Möglicherweise ist das eine allzu alt-abendländische Erwartungshaltung. Aber doch: Dies ist der Stoff für einen großen Roman. Vielleicht schreibt Ghandour ihn ja eines Tages.

Zeina B Ghandour: „Der Honig“. Aus dem Englischen von Sabine Hübner. dtv, München 2004. 118 Seiten, 12 Euro