Immer die falsche Zeit

Die Knute des französischen Kolonialismus und das Schreckgespenst des islamistischen Terrorismus: die Romane „Das verlorene Wort“ von Assia Djebar und „Der Fisch des Moses“ von Habib Tengour

„Ich brauche die arabische Sprache, aber ich denke Französisch“

VON MARTIN ZÄHRINGER

Algerische Literatur ist oft dem sprachlichen Exzess und meist der radikalen Systemkritik verpflichtet – spätestens seit der Verleihung von Jean Cocteaus „Prix des Enfants Terribles“ an Rachid Boudjedra im Jahr 1970. Kolonialgeschichtlich bedingt erscheint ein großer Teil der algerischen Literatur auf Französisch, auch nach der Unabhängigkeit 1962. Der Massenexodus von Intellektuellen und Künstlern nach der Machtübernahme des Militärs im Jahr 1992 hat diese Tendenz eher noch verstärkt. Die arabische Literatur algerischer Provenienz ist also überwiegend französischer Zunge. „Meine Bilder, meine Erinnerungen und die konkreten Dinge verlangen den Gebrauch der arabischen Sprache, aber ich denke Französisch“, so formuliert die international bekannte Schriftstellerin Assia Djebar das mustergültige Paradigma des postkolonialen algerischen Intellektuellen und Künstlers – sie schreibt allerdings auch Französisch.

In ihrem neuen Roman „Das verlorene Wort“ thematisiert Djebar die Rückkehr aus dem Exil und versetzt sich dazu in die Perspektive eines Mannes. Der Algerier Berkane, ein mittlerer Charakter mit kleiner Frühpension und geerbtem Häuschen am Meer, zieht sich aus Paris zurück, um zu schreiben. Er resümiert die Beziehung zu seiner französischen Geliebten und freundet sich mit einem Fischer an. Als eine junge Frau auftaucht, dreht sich das Karussell der erotischen Freuden erneut.

Allerdings täuscht man sich in dem melodramatisch anklingenden Ton, wenn man sich allzu sehr den postmodern erotisierten Schwingungen hingibt, seien sie sinnlicher, symbolisch-sprachlicher, ironischer oder selbstreferenzieller Natur – doch, da kommen wieder die heißen Küsse aus Djebars Debütroman von 1957, der bei den algerischen Genossen unter Subjektivismus-Verdacht geriet.

Die verschiedenen Textebenen mit Erzählungen, Berichten und Tagebuchfragmenten führen auch in diese markante Epoche der neueren algerischen Geschichte, die Zeit des Befreiungskrieges von 1956 bis 1962, und sie führen in Berkanes Kindheit vor Beginn dieses Krieges, die Zeit in Frankreich bis zur Rückkehr nach Algerien.

Auch für Berkane, der sich in Frankreich sicher wähnte, geht es um das Drama der Menschwerdung unter der Knute des französischen Kolonialismus. Zu den am eigenen Leib erfahrenen Urszenen dieser historischen Erfahrungen arbeitet sich sein Diskurs des Erinnerns in verschiedenen Medien vor. Kaum führt der eine Text heraus aus der Erinnerung – an die Schande der Jugend oder jene drei Stunden heldenhafter Bewährung – führt der nächste in die schwarze Wüste der Verdrängung, und sehr plötzlich landen wir bei der Folter, der französischen Folter, der Sandfolter. Von dort erlöst, öffnet sich schon der nächste Text, dem nächsten Desaster, und ein gutes Ende gibt es nicht. Der Emigrant Berkane hat sich den falschen Zeitpunkt für seine Rückkehr herausgesucht, den Herbst 1991, aber so wie es aussieht, gibt es für die Algerier nur den falschen Zeitpunkt.

Wiederum ausgezogen, um zu kämpfen, sind die „Afghanen“ in einem neuen Roman des in Paris lebenden algerischen Schriftstellers Habib Tengour: „Der Fisch des Moses“. Die „Afghanen“, das sind drei junge Algerier, die in Afghanistan waren und dort gegen die Sowjets gekämpft haben. Bei Habib Tengour bekommen die Schreckgespenster des islamistischen Terrorismus echte Gesichter, ja, sie werden sogar Charaktere.

Einer der Afghanen ist Mourad, der bürgerlichen Verhältnissen entstammt und Doktor der Physik ist. Mourad ist ein sensibler junger Mann, ein Wahrheitssucher zwischen Wissenschaft, Religion und Politik. Er gerät aus den Traumgefilden von Medina, der Urgemeinschaft der Muslime, in die Berge Afghanistans. Die Werte der dort operierenden Kämpfer erscheinen ihm aber nicht als das Wahre: „Sie können es nicht leiden, wenn sie einer zur Ordnung ruft wie ordinäre Landser. Sie empfinden sich allesamt als autonome Rebellen.“

Mourads puristisches Denken wandelt sich, aus der Pilgerfahrt nach Afghanistan wird eine solide Kriminalgeschichte, und wie im folgenden Plot um die erbeutete Million, gibt es auch keine saubere Lösung aus den Widersprüchen seiner geistigen Suche: Nach der Erfahrung des Dschihad und auf dem Weg in ein utopisches neues Leben in Australien, kommt er bei einem geplanten Zwischenstopp in Frankreich zu dem Schluss: „Es gibt weder Orient noch Okzident, das ist alles literarischer Quatsch, bloß einen Norden und einen Süden, die sich tödlich bekriegen. Das ist die Wahrheit.“

Noch nicht ganz geheilt vom Bedarf an weltanschaulicher Eindeutigkeit, dieser Exislamist, aber tendenziell hat er wohl Recht.

Assia Djebar: „Das verlorene Wort“. Aus dem Französischen von Beate Thill. Unionsverlag, Zürich 2004. 249 Seiten, 19,90 EuroHabib Tengour: „Der Fisch des Moses“. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Haymon Verlag, Innsbruck 2004. 271 Seiten, 19,90 Euro