: Flutscht so durch
600 Seiten gut durchgefickte Rollenprosa: Irvine Welsh hat den Autopilot angeworfen und mit „Porno“ den „Trainspotting“-Nachfolger geschrieben
VON ANDREAS MERKEL
Zehn Jahre ist es her, dass Mark Renton alias Rent-Boy alias Rents alias „diese Verräter-Fotze“ mit der Kohle durchbrannte und uns versprach, genau so zu werden wie wir. Wir erinnern uns: „Choose life. Choose a job. Choose a career. Choose a family. Choose a fucking big television. Choose DIY and wondering who the fuck you are on a Sunday morning. Choose rotting away at the end of it all, pissing your last in a miserable home, nothing more than an embarrassment to the selfish, fucked up brats you spawned to replace yourself. Choose your future.“
Zehn Jahre später ist diese Zukunft nicht nur now, sondern vollkommen Porno. So hat Irvine Welsh die Roman-Fortsetzung seines größten Erfolges „Trainspotting“ genannt, die jetzt die Antwort auf die Frage geben soll, was aus der Clique von „befreundeten“ Antihelden, skrupellosen Heroin-Junkies und verwirrten Ich-Erzählern wohl geworden ist.
Nun, Rents ist mit dem Drogengeld nach Amsterdam durchgebrannt und dort ein erfolgreicher Rave-Veranstalter geworden. Sick-Boy ist erfolglos, aber mit unerschüttertem Ego aus London nach Leigh, Edinburgh, zurückgekehrt, um in der alten Heimat als Barbetreiber und Porno-Produzent durchzustarten. Die heiße Filmstudentin Nikki Fuller-Smith, die mit einer gewissen Dianne in einer WG lebt, würde in ebendiesem Porno-Projekt gerne als Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin zum Superstar werden. Der Labilo Spud ist so wie immer: abhängig, dauerbreit, für jede Schandtat zu haben. Und der Hooligan und Vollblut-Alkoholiker Begbie kommt gerade frisch aus dem Knast und sinnt auf Rache – welche „Fotze“ hat ihm anonym Schwulenpornos ins Gefängnis geschickt, und wo steckt Rents?
Mit anderen Worten: Nicht viel passiert, keine Überraschungen und schon gar keine Weiterentwicklung der Charaktere. Das ist super „realistisch“, als Pointe und Begründung für einen Fortsetzungsroman aber etwas dünn. „Porno“ liefert sechshundert gut durchgefickte Seiten Rollenprosa, auf denen Welsh seinen nur mittelmäßig artifiziellen Point-of-View-Stil wie auf Autopilot runterreißt. Je assoziativer und asozialer die Gedankengänge der fünf Ich-Erzähler, desto besser. Die Spannung des Plots reduziert sich dabei recht schnell auf die Fragen, ob Sick-Boy und Co. ihren großen Pornofilm „Die sieben Säulen der Geilheit“ wirklich realisieren können und ob Begbie Renton noch erwischen wird.
Als Protagonisten gelingen Welsh bezeichnenderweise nur die beiden Loser Spud und Begbie in ihren Exzessen der Abgefucktheit. Bei Letzterem ist man trotz der Anglisten-Empfehlung, Welshs Romane unbedingt im Original zu lesen („Ah lits um go tae git the bat wi baith hands“) froh, eine Übersetzung zu haben, die keine Angst davor hat, sich auf Augenhöhe mit ihren Figuren zu bewegen: „Erst n paar verdammte Stunden aus m Bau un schon was zum Ficken aufgerissen. Und was für ne scharfe junge Braut auch noch!“
Allerdings kann auch die beste Übersetzung nichts mehr retten bei Welshs misslungenem Versuch, sich in die naturgeile Nikki hineinzuversetzen. Die schreibt gerade ihre Diplomarbeit und arbeitet nebenher, logo, im Massagesalon. Außerdem ist sie die mieseste Ranschmeiße an studentische Leser seit dem noch auf jeder Uni-Party zu Tode gespielten „Trainspotting“-Soundtrack und denkt dauernd Sachen wie: „Er hält einen Moment inne, seine tiefen, ebenholzschwarzen Augen saugen mich auf, und dann küsst er mich: auf die Stirn, dann auf beide Wangen, jeder Kuss zugleich fest und sanft, präzise explodierend und erregende Informationen in den jetzt nebelhaften Kern meines Selbst schickend.“
Letztlich bleiben jedoch selbst die schwächsten Kapitel in „Porno“ überlagert vom phänomenalen Erfolg der Verfilmung seines Vorgängers, die für den Romannachfolger somit weniger zum Problem als vielmehr zur großen Stütze wird. Was macht es schon, wenn sich Charaktere wie bloße Filmrollen lesen, wenn man sich dazu gleich so fabelhafte Darsteller wie Ewan McGregor und Robert Carlysle vorstellen kann! So warten wir auf die Verfilmung und lesen den Roman bis dahin ostentativ in aller Öffentlichkeit, um es den ganzen „Scheinheiligen und moralischen Saubermännern“ (Klappentext) mal so richtig zu zeigen.
Irvine Welsh: „Porno“. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 576 Seiten, 12,90 Euro
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