Gegensätze stoßen sich ab

Der isländische Regisseur Baltasar Kormákur hat ein Drama mit Fisch und Familie gedreht: „Die kalte See“

Island 2002. Die kalte See schreit nach dem heißen Topf. Das sind die thermisch begünstigten Wasserlöcher im Fels. Sie laden zu kommunikativem Verhalten und zum Sex ein, vorausgesetzt, wie der Verfasser weiß, die 40-Grad-Marke wird nicht überschritten. Regisseur Baltasar Kormákur lässt Gegensätze mehr oder minder lustvoll aufeinander prallen, und auf sein Debüt von 2000 setzt er noch eins drauf. „101 Reykjavík“ hatte, wie der Verleih weiß, „in Island den größten internationalen Erfolg erzielt“.

Wir hatten heiß und kalt. Wir können aber auch Islands Rapper Quarashi ins isländische Symphonieorchester setzen, und also geschieht es, dass zum Hit „Baseline“ geile Geigen gestrichen werden. Und weiter: Möchten wir angesichts der Luftaufnahme vom alleröstlichsten Osten der Insel „welch arktische Pracht“ rufen, holt uns die Information aus der Totalen ab, dass aber auch jede Frau in Island vergewaltigt werden wird, falls das nicht schon geschehen ist.

Wir werden behelligt – im Kleinen wie, um nun zum Plot zu kommen, im Großen. Der Chef des Fischfangverarbeitungsunternehmens im entlegenen Neskaupstadur ruft die Familie zusammen, um sowohl die Nachfolge als auch Kollateralschäden der Globalisierung zu regeln. Die Fischfangquoten, deren Einführung Problem Nr. 1 der Wirtschaft ist, treiben den Fischfangmittelstand in den Ruin. Statt Fische zu fangen, ist es lukrativer, Quoten zu verkaufen. Damit aber verödet der Osten, während die Metropole Reykjavík im Westen wächst und gedeiht.

Das ökonomische Dilemma kopuliert in diesem Fisch-und-Familie-Drama mit der Krimifrage: Gab’s in der Sippe einen Mord, und wer war es?

Während das Familientreffen eskaliert, verlieren Fischfangfacharbeiter ihren Arbeitsplatz. Das bedeutet für den Zuschauer extremen Temperaturwechsel. Einerseits wird er mit ökonomisch aktuellen Daten und Fakten versorgt, andererseits verfolgt er die schauspielerischen Höchstleistungen des Familienmelodrams, und wer meint, in offenen Kitsch entlassen zu werden (Rentiere schauen dich an, das Bach/Gounod’sche „Ave Maria“ erklingt), findet sich in einem tristen Hochhausappartement im grautrüben Reykjavík wieder. Dort dämmert der tyrannische Familienpatriarch als Pflegefall dahin.

Kormákurs „Kalte See“ hat bereits die epische Qualität, Islands Gegensätze und Widersprüche in ein Gesamtbild zu zwingen. Er antwortet mit seinem Islandfilm der Filmheldin, die im inselfernen Lodz ihr Glück zu finden gehofft hatte und im Filmdialog resümiert: „Zehn Jahre auf der Filmschule in Polen, um Werbefilme für Windeln zu machen“.

Also gut: „Die kalte See“ wirbt für Island, mindestens für den isländischen Film. Doch bevor wir das großartig finden, müssen wir uns bei einer Schieflage aufhalten. Der Film ist dialogzentriert. Das Bild, das sich in der Szene aufbaut, Kamera, Ton, Schnitt, all das beeilt sich, um den Dialogsatz, der da nahet, abzufeiern. Ist das Flugzeug soeben gestartet, verschwindend im majestätischen Arktispanorama, hat es unweigerlich dem Satz „Jetzt sind sie weg“ die Bühne bereitet.

Und wenn diejenige, die den anderen überzeugen will, umständlich und halbnah aufgenommen wird, wie sie ihm einen bläst – muss sie das während ihrer sexuellen Tätigkeit auch noch in Worten sagen? Und: geht das überhaupt? DIETRICH KUHLBRODT