EINEM SOZIALHILFE-EMPFÄNGER WIR DAS GELD GEKÜRZT– ER HAT GEBETTELT
: Kriminalisierung von Armut

Ein Mitarbeiter des Sozialamts erspäht in Göttingens Fußgängerzone einen Hilfebedürftigen, für den er zuständig ist. Er beobachtet ihn beim Betteln. Er zählt sogar die Münzen in der Blechbüchse, wahrscheinlich geht er dafür bemüht unauffällig ein paar Mal an dem Mann vorbei. Den Spitzeleinsatz wertet er später auf den Cent genau aus – und kürzt seinem Schützling die Stütze, schließlich hat der sich ja was dazuverdient. Ein Skandal?

Ja, sagt der gesunde Menschenverstand. Dabei hat der Sozialamts-Mitarbeiter formal korrekt gehandelt, er hat, anders gesagt, seine Dienstpflicht vorbildlich erfüllt. Was wie eine Überwachungsfantasie durchgedrehter Sozialkontrolleure anmutet, ist tägliche Praxis in deutschen Behörden. Besonders offensichtlich ist diese in der Hartz-IV-Gesetzgebung. Dort ist es zum Beispiel üblich, dass Amtsmitarbeiter die Wohnungen von LeistungsempfängerInnen inspizieren. Gibt es getrennte Betten, sind die Jogurts im Kühlschrank markiert, stehen die Zahnbürsten in zwei Bechern – all dies sind wertvolle Hinweise. Es könnte ja sein, es handelt sich gar nicht um eine richtige WG, sondern ein Paar lebt zusammen – und schummelt sich damit ein wenig Geld herbei.

Der Staat unterstellt nämlich jedem Menschen, der auf öffentliche Hilfe angewiesen ist, erst mal betrügerische Absichten. Kriminalisierung von Armut nennt man das. So durchleuchtet er hemmungslos die Privatsphäre derjenigen, die sich am wenigsten wehren können. Um auch die kleinste unberechtigte Leistung zu sparen, betreibt er einen immensen Aufwand. Und macht bei seinem Versuch, Bedürftigen auf keinen Fall einen Cent zu viel zu zahlen, viele Fehler. Dies belegt die Zahl der Prozesse vor dem Sozialgericht, die seit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 explodiert ist. Häufig muss der Staat seine Entscheidungen korrigieren.

Die Göttinger Episode ist daher viel mehr als ein absurder Einzelfall. Sie ist ein Symptom einer Gesetzgebung, die solche Szenarien nicht nur verantwortet, sondern sich nicht zu schade ist, sie aktiv zu fördern. ULRICH SCHULTE