Die im Schatten

Die Mechanismen von Masse und Macht: Die kanadische „Fondation Jean-Pierre Perreault“ eröffnet die Spielzeit auf Kampnagel mit Perreaults legendärem Tanzstück „Joe“

von Marga Wolff

Die 20 Jahre sind nicht spurlos vorbeigegangen, deutlich Patina hat „the everage working“ Joe mittlerweile angesetzt. Otto Normalverbraucher würden wir ihn hierzulande nennen, und dem hatte der kanadische Choreograf Jean-Pierre Perreault mit seiner Choreografie Joe, die auf Kampnagel nun die Spielzeit eröffnete, 1984 ein Denkmal gesetzt.

Die Masse ist es, die fasziniert. Wie anachronistisch das chorische Bewegungsspektakel auch immer anmutet, Joe steht nach wie vor für eine einzigartige und lebendige Ensemblearbeit, deren Motor ein gemeinsamer Atem ist. Gleich 32 dieser Durchschnittsbürger treffen hier zusammen, formieren sich eingangs zum Pulk und setzen sich schlurfenden Schrittes in Bewegung. Ihre schweren Schuhe schleifen über den Boden, Rhythmus und Klang der selbst erzeugten und verstärkten Geräusche machen hier die Musik. Einzelne Gestalten lösen sich aus der Masse Mensch, um ob ihres gleichen Äußeren – Hut, Krawatte, Anzug, darüber ein langer Mantel – sofort wieder in der Anonymität der Menge unterzugehen.

Joe, das Signaturstück des 2002 im Alter von 55 Jahren verstorbenen Frankokanadiers Perreault, dekliniert die Mechanismen von Masse und Macht, von Konformität und Einzigartigkeit. Die „Jedermänner“, die ihre Gesichter im Schatten ihrer Hutkrempen verbergen, drängt es immer wieder auszubrechen aus dem Trott. Und während einer von drei Kollegen hoch hinaus gehoben wird, werden die anderen gewaltsam zu Boden geschleudert.

Allerdings ist das Stück eher abstrakt als emotional, entwickelt keine Geschichte, gleicht einer Versuchsanordnung von Möglichkeiten. Man könnte Joe als ein Lehrstück des Tanztheaters betrachten, das mit einfachen Mitteln von Raum, Licht und Klang und einem begrenzten Bewegungsvokabular maximale Variationen und dynamische Vielfalt auslotet. Wie Architekturen werden die Menschenformationen durch den Raum geführt, der am hinteren Bühnenrand in eine Schräge mündet. Da rasen die Gestalten hoch und rutschen wieder hinunter.

Die schemenhafte, präzise gearbeitete Theatralität ist in dem zwielichtigen Dunkel mitunter magisch zu nennen, erinnert an das Theater von Robert Lepage, der erst kürzlich mit einem ebenfalls bereits vor 20 Jahren entstandenen Stück auf Kampnagel begeisterte. Und in Momenten, in denen sich Monotonie und Langeweile einzuschleichen drohen, überraschen unerwartete Wendungen. Der Trott kommt zum Stillstand, und in die Lautlosigkeit beginnt jemand leise auf der Mundharmonika zu spielen, so dass der Raum zu schweben beginnt. Fritz Langs Metropolis hat man zum Vergleich herangezogen oder, in den eher liebenswert humorvollen Szenen, Buster Keaton. Doch auch der deutsche Ausdruckstanz ist unverkennbar, und das wirkt dann leicht angestaubt.

bis Samstag, 20 Uhr, Kampnagel