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Arcadia, Pleasure Beach

Prunksters (3) – Henning Kobers wöchentliche Kolumne aus den USA. Heute: Über den Dächern New Yorks

Was für eine unglaubliche Gräfin, schreit es mir durch den Kopf. Ich sitze am frühen Abend in einem Sofa auf dem Dach meines neuen Zuhauses in Williamsburg und beobachte, wie sich die Welt dreht. Tatsächlich dreht, ganz physikalisch. Die Sonne steht tief und trifft mich zwischen die Augen. Dann wird es dunkel und sofort merklich kühler. Der rote Planet verschwindet hinter einem hohen Haus in Downtown Manhattan, etwa dort, wo früher das World Trade Center stand. Die Skyline glüht rot in den ansonsten eisblauen wolkenlosen Horizont. Ich muss eine Zigarette rauchen, so fuzzy sensational scheint mir dieses Ereignis. Noch bevor ich damit fertig bin, leuchtete mir die Sonne erneut ins Gesicht. Die Dame ist eine unbeirrbare Sprinterin. Beeindruckt und verwirrt schwimmt meine Stimmung inmitten eines Lunalands aus weichen Sitzen, Schilfpflanzen und im Wind flatternden Fahnen. Ich gehe nach unten, an der schweren Eisentür steht: Arcadia.

Über der Schwelle drehen sich sanfte elektronische Loopings ins Ohr. Am Fenster sitzt Billy am Computer, trinkt ein Bier und komponiert seine Musik. William Basinski hat etwas Bewundernswertes geschafft, er hat sich seinen Traum aus der Nacht in den Tag geholt, als Hilfslinie, nicht als Manifest. Seit Jahrhunderten ist Arkadien, ein Landstrich auf dem Peloponnes in Griechenland, utopistischen Seelen ein Code für die bessere Parallelwelt – den pleasure beach. Eine gewaltige Discokugel wirft Sterne an die viktorianische Decke, unter der früher Arbeiter für die Industrie schufteten. An der Wand ticken hundert Uhren. In der Mitte des Raums steht eine gewaltige Tafel. Vor mehr als zwanzig Jahren kam Billy aus Texas. Auf seinem T-Shirt stand: Lost Boy. Seine Rettung trägt den schönen Namen der Liebe.

Wir gehen zurück aufs Dach. Sirenen heulen durch die Straßen. Über uns knattern News-Helikopter der lokalen Fernsehsender. Ein Brand in einem Gebäude unten am East River. Billy raucht Kette. Vor drei Jahren saß er hier und sah, wie das World Trade Center zusammenfiel. Er erzählt nicht viel von diesem endlos langen Tag, an dem tausende zu Fuß über die Brooklyn Bridge liefen. Vor dem Gestank der rauchenden Trümmer in den Wochen danach flüchtete er nach Kalifornien. Seitdem verbringt er dort den Winter. Dieses Jahr fährt er später. Am Tag nach der Wahl. „Das ist wichtig, sehr wichtig“. Der Himmel der Stadt leuchtet orange.

TEXT & BILD: HENNING KOBER

prunksters@taz.de

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