Virtuelle Abenteuer der Reportage

Von der Bedeutung der reisenden und schreibenden Autoren, „deren einzige Waffe ihr Stift ist“

Das Eintrittskärtchen beweist, dass auch die Kunst der Reportage im virtuellen Zeitalter angekommen ist: Lediglich vier Web-Adressen zieren den orangefarbenen Zettel des „Tipi am Kanzleramt“, sie verweisen auf den Preis, der an diesem Abend vergeben wird: Lettre Ulysses Award for the Art of Reportage, den Initiator Lettre International, den Haupt- und Nebensponsor Aventis Foundation und Goethe-Institut. Passenderweise bestehen die ersten Worte der Veranstaltung in einer Bitte um Entschuldigung für den möglichen Lärm, den die nahe gelegene Deutsche-Einheits-Feier am Brandenburger Tor bescheren könnte. Schließlich geht es hier um nichts weniger als die beste Langzeitreportage des Jahres, und das im internationalen Vergleich.

Sieben Texte und ihre AutorInnen haben es bis ins Finale geschafft: Sechs davon sind „weiße“ Männer, lediglich ein Text ist das Gemeinschaftsprodukt eines Ehepaares aus China. Fünf der sieben Texte sind von unterwegs, vier Texte handeln von Afrika (Mord und Totschlag), einer von Haiti (ein Arzt als Hoffnungsträger), einer von den USA (Rückbau des Ground Zero) und einer von China (zur miserablen Situation der Bauern). Wie schon im Jahr zuvor ist die Diskrepanz zwischen dem Sujet, insbesondere den Reportagen aus Afrika, und dem Ambiente der Preisverleihung unübersehbar. Während ein Finalist von abgehackten Händen in Sierra Leone liest, greift die eigene zum Weinglas, in das der zuvorkommende Kellner soeben einen 1999er Cabernet Sauvignon Reservado aus Chile gefüllt hat. Dazu ein Thai Samosa mit Koriander Dip, und der Abend ist gerettet.

Es ist ohnehin bezeichnend, wie dieselben Aussagen, vorgetragen von unterschiedlichen Leuten, gänzlich verschieden klingen. Wenn der südafrikanische Autor Breyten Breytenbach, – Master of Ceremonies an diesem Abend – sagt, wie wichtig es ist, sich mit der Realität auseinander zu setzen, um klarer sehen zu können und im Anschluss vielleicht zu handeln, so nimmt man ihm dies sofort ab. Wenn hingegen der Vertreter der Aventis Foundation von der Bedeutung der reisenden und schreibenden Autoren spricht, „deren einzige Waffe ihr Stift ist“, so klingt das schlichtweg hohl. Oft begeben sich die Autoren in fremde Länder, und gerade Afrika, so der Tenor, dürfe nicht vergessen werden. Dass man, wie Breytenbach es sagt, Bewusstsein schaffen muss, um etwas tun zu können – dieser genuin human(istisch)e Aspekt des Schreibens über die Realität, über „vergessene Kontinente“, ist mit Sicherheit eines der nobelsten Anliegen des Preises. Ob diesem mit einem Candlelight-Dinner für handverlesene Gäste gedient ist, bleibt allerdings eine offene Frage. Der erste Preis der Kulturzeitschrift Lettre International ging übrigens an die Chinesen. MARTIN HAGER

Auszüge aus den Reportagen der sieben Finalisten finden sich in der aktuellen Ausgabe von „Lettre International“ (Nr. 66, Herbst 2004, 9,80 €)www.lettre-ulysses-award.org