Seelen pflegen

Die Bielefelder Sonnenhellweg-Schule setzt auf spezielle Hilfen für behinderte Kinder und Jugendliche. Das Konzept überzeugt auch Eltern, die mit Anthroposophie nichts im Sinn haben

VON SILVIA BOSE

Michel ist bockig; hat keine Lust auf Scherben. „Das ist doof“, schnaubt der Schüler, verschränkt die Arme vor der Brust und mault in der Ecke. „Das kann ich nicht!“ Seine fünf Klassenkameraden stürzen sich dagegen mit Elan in den Unterricht: Katharina rührt Kleber an, Alexander sortiert Scherben, Lukas setzt eine große Schutzbrille auf und zerdeppert mit dem Hammer Fliesen – Nachschub für das Mosaik. Außer Michel traben alle mit der Lehrerin Claudia Fabisch-Pieper auf den Hof der Bielefelder Sonnenhellweg-Schule.

In der staatlich anerkannten Ersatzsonderschule lernen knapp 130 lern- und geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Die Schüler gelten in dieser Waldorfschule aber nicht als behindert, sondern als „seelenpflegebedürftig“. „Dahinter steckt die Idee, einen positiven Begriff zu finden“, sagt Geschäftsführer Jürgen Scharmacher. „Seelenpflege brauchen wir ja alle. Seelenpflegebedürftige benötigen aber besondere Hilfe, weil bei ihnen Geist, Seele und Körper nicht richtig verzahnt sind.“

Die daraus entstehenden „intellektuellen, emotionalen und willensmäßigen“ Behinderungen sollen durch Lerninhalte, Methodik und eine gestaltete Umgebung überwunden werden. Das Gebäude sieht allerdings nicht nach einer kuscheligen Waldorfschule aus. In dem 60er-Jahre-Plattenbau war früher eine Hauptschule; 1990 zog die Sonnenhellweg-Schule ein. Seitdem hat sich einiges geändert: Schüler und Lehrer legten einen Garten an. Pferd, Pony, Ziegen und eine Katze fanden ein neues Zuhause. Langsam kamen Töpferei, Schmiede und Holzwerkstatt hinzu. Die Pädagogen legen, wie es sich für Anthroposophen gehört, besonderen Wert auf sinnliche Erfahrung durch künstlerischen Ausdruck und Handwerk. Denn im „Gestalten sollen Tatkraft und der Wille entstehen, an der Welt mitzubauen“, heißt es in einer Image-Broschüre.

Die 10. Klasse zeigt Tatkraft am Mosaik. Claudia, Alexander und die anderen suchen Scherben aus, streichen Kleber auf die Rückseite und passen sie in das Blumenornament ein. „Das haben wir ausgedacht. Auch das Blau“, sagt Katharina, als sie einen Fliesensplitter in die Lücke presst. Der Blauton sticht ab. „Macht nichts“, versichert die Lehrerin.

Das Mosaik sieht nicht nur gut aus, sondern bringt den Schülern auch viel: Das Erlebnis etwas zu zerschlagen, aus den Trümmern langsam Neues zu gestalten, Gefühl für Form und Farbe zu gekommen und eine Lösung unter vielen auszuwählen – das alles sind wichtige Erfahrungen für die behinderten Kinder. Außerdem macht so ein Mosaik ordentlich Eindruck bei den anderen 14 Klassen.

Wie das Mosaik wächst, sehen die Schüler schon, wenn sie morgen aus den Bullis steigen. Ein kurzer Blick, dann geht es weiter in die Klasse. Erst mal in Ruhe ankommen, einer erledigt das „Blumenamt“, dann treffen sich alle in der Aula. In der Runde begrüßen sich Schüler und Pädagogen, beglückwünschen Geburtstagskinder und singen. Am Schluss gibt es einen Spruch zur Jahreszeit. Dann lernen die Schüler im Epochenunterricht zu einem Thema viele Fächer – von Rechnen über Sprachlehre bis zu Biologie und Geschichte. Ganzheitliches Lernen ist das Ziel. Epochenunterricht, „Morgenkreis“ und Schulfeste strukturieren Tage, Wochen, Monate und das Jahr. So entsteht ein für Waldorf-Schulen typischer Rhythmus, der gerade auf Menschen mit Behinderungen harmonisierend wirken soll.

Eltern wie Joke Reckmann überzeugt das Konzept. „Ich habe absolutes Vertrauen in die Pädagogik“, versichert die Nicht-Anthroposophin. Ihrem mittlerweile 15-jährigen Sohn tue die Schule gut. „Es ist einfach sagenhaft, wie die Lehrer mit den Kindern umgehen und was die Schüler hier alles machen können. Und dann noch die ruhige Atmosphäre.“ Als Joke Reckmann die Schule vor neun Jahren kennen lernte, war sie noch befremdet. „Watt soll ich damit?“, habe sie sich gefragt, als sie auf einem Elternabend Stäbe in die Hand gedrückt bekam und damit ausladende Kreise ziehen sollte. Eurythmie. An die Bewegungskunst der Anthroposophen hat sich die Mutter mittlerweile gewöhnt.

Die Eurythmie-Lehrerin Olga Maria Mulder unterrichtet nicht nur Klassen, sondern fördert auch einzelne Schüler. „Im Kopfe bin ich licht“, singt sie, indem sie sich nach vorn beugt und ihren Kopf wieder langsam hebt. Dann stampft sie. „In den Füßen hab ich Krrrraft. Im Herrrzen bin ich frrroh.“ Vor ihr steht Jan, der durch sein Downsyndrom unter anderem schlecht spricht. „Wenn Jan die Laute auch nicht sprechen kann, er kann sie durch die Bewegungen fühlen“, erklärt Olga Maria Mulder. Außerdem lerne der Junge bei der Sache zu bleiben, was ein großer Erfolg bei Kindern wie Jan sei. „Aber“, räumt die Lehrerin ein, „dieser Erfolg muss nicht im anderen Unterricht spürbar sein.“

In der Sonnenhellweg-Schule geht es eben um kleine Erfolge. Wie bei der 10. Klasse. Das Mosaik ist in dieser Stunden ordentlich gewachsen. Katharina, Lukas, Alexander und die anderen stehen stolz vor ihrem Werk und erzählen, wie toll sie das hingekriegt haben. Der bockige Michel lauscht von weitem. „Das kann ich auch“, prustet er, marschiert auf Lukas zu, nimmt ihm den Spachtel und beendet seinen Streik. Wieder ein kleiner Erfolg.