IDEOLOGISCHER STREIT BLOCKIERT NÖTIGE UND PRAGMATISCHE LÖSUNGEN
: Zuwanderung in kleinen Schritten

Der Eiserne Vorhang hat sich geöffnet. Sie reden wieder miteinander, Gott sei Dank. Nach Monaten des Schweigens, in denen der Dialog komplett abgebrochen war, haben sich die verfeindeten Seiten am Samstag an einen Tisch gesetzt. Die Verhandlungen wurden als „konstruktiv“ beschrieben. Das ist ein Erfolg, auch wenn naturgemäß noch kein Ergebnis erzielt wurde – kein Wunder bei der Vorgeschichte. Eine Lösung des Konflikts scheint aber nicht mehr völlig ausgeschlossen.

Geht es um Nordkorea? Um Nordirland? Um den Frieden in Nahost? Nein, der Verhandlungstisch steht in Berlin, und gesprochen wird über das geplante, fast schon totgesagte deutsche Zuwanderungsgesetz. Der Vergleich mit ernsten Krisenherden mag hinken. Aber absurd ist er nicht, was den Verhandlungsstil betrifft. Absurd ist der Umgang der Parteien mit der Einwanderungspolitik. Was auf diesem Gebiet passiert – oder besser gesagt: nicht passiert – lässt selbst wohlmeinende Beobachter des Politikbetriebs verzweifeln.

Es geht ja nicht um Atomaufrüstung oder jahrtausendealte Grenzkonflikte. Es geht um die Lösung praktischer Probleme, an der alle interessiert sein müssten, Rot-Grün im Bund ebenso wie die Union, die im Bundesrat die Mehrheit hat. Spricht man in einer ruhigen Stunde mit den Experten beider Seiten, so hören sich ihre Positionen auch ähnlich an. In der Diagnose sind sich alle einig. Ist ja auch nicht allzu schwierig. Das deutsche Ausländerrecht ist viel zu kompliziert und bürokratisch. Es muss vereinfacht werden. Die Integration funktioniert nicht wie gewünscht. Dafür muss trotz leerer Kassen Geld her. Und Menschen in Not muss geholfen werden. So weit, so Konsens. Trotzdem ist seit Jahren nichts passiert.

Daran ist in erster Linie die Union schuld. Wäre sie ehrlich, müsste sie gestehen: Das rot-grüne Gesetz bietet einen Ansatz zur Lösung der Probleme. Die Union aber tut so, als ob die Regierung das Land mit Ausländern überfluten wolle. Vordergründig streitet sie um Details, in Wahrheit geht es ihr um das Signal: Tür zu! Dieses wiederum kann Rot-Grün nicht geben, wenn das Gesetz noch irgendetwas damit zu tun haben soll, wofür es einst gedacht war: als Zeichen einer Öffnung. Diese Ziele sind nicht vereinbar. Deshalb hat es wenig Sinn, weiter um Details zu verhandeln. Sinnvoller wäre es, das illusorische Projekt „Zuwanderungskonsens“ aufzugeben – und endlich die Probleme anzugehen. Schritt für Schritt. Mit einzelnen Gesetzen, die Rot-Grün teilweise auch allein durchsetzen kann – oder für die es eine Mehrheit geben dürfte, wie bei der Integration. Der ideologische Streit um das große Ganze blockiert nur die notwendige Lösung der Probleme. LUKAS WALLRAFF