Leben ist Überleben

Wie kein anderer Autor seiner Generation hat der französische Philosoph Jacques Derrida seine Leser auf den Tod vorbereitet

VON RENÉ AGUIGAH

Es muss Zeiten gegeben haben, in denen die Welt das Nachleben eines Autors abgewartet hat, bevor sie über seine Aufnahme in den Pantheon des Geistes entschied. Diese Zeiten sind vorbei; längst werden die großen Autoren zu Zeugen, manchmal zu Agenten ihrer eigenen Kanonisierung. Sie betreuen die Betreuer von Dissertationen über sich selbst, sie redigieren Lexikonartikel über sich selbst, oder sie wohnen Konferenzen bei, die ihren Namen im Titel tragen. Kaum ein Autor der Gegenwart begegnete sich selbst so häufig wie Jacques Derrida. Eine der ungezählten ihm gewidmeten Tagungen fand 1995 an der englischen Universität Luton statt: „Applied Derrida“, also etwa: „Derrida angewendet“. Zwei Tage lang folgte der Philosoph den Vorträgen, schweigend. Erst gegen Ende ergriff er das Wort und improvisierte über die prekäre Lage, all die Reden über sich selbst zu hören, ohne adressiert zu sein. „Wenn man zu einer Tagung kommt, die den Titel ‚Applied You‘ trägt, dann können Sie sich vorstellen, dass Sie eine Situation erleben, in der es ist, als ob Sie tot wären.“

Eine gespenstische Situation. Derrida räumt ein, dass die Hoffnung, nach dem Tod weiterhin die Welt beobachten zu können, etwas Beruhigendes hat. Aber vor allem sieht er in ebendieser Vorstellung den eigentlichen Grund für unsere Angst vor dem Tod. „Was absolut beängstigend ist, ist der Gedanke, tot zu sein, während man quasi-tot ist, während man die Dinge von oben sieht, von jenseits. (…) Tot zu sein ohne tot zu sein, ich würde sagen, das ist unerträglich.“ In der schriftlichen Version dieses Gesprächs hat Derrida das „als ob“ kursiv setzen lassen, jene Wendung, die er für die Philosophie neu erschlossen hat: als Register des Uneigentlichen. Jetzt, da Derrida tatsächlich verschwunden ist, haben nicht nur die Menschen in seiner Umgebung, sondern auch Leser in der ganzen Welt das schiere Faktum seines Todes zu begreifen.

Mehr als die anderen Autoren seiner Generation, deutlicher als Foucault, Deleuze oder Lyotard, hat Jacques Derrida seine Leser auf den Tod vorbereitet. Da sind zunächst die im engeren Sinn philosophischen Texte, die, vor allem Hegel und Heidegger lesend, die letzte Schwelle des Lebens umspielen. Der 1992 vorgetragene Essay „Aporien“ etwa wendet die existenzphilosophische Analytik des Todes in ein Denken des Möglichen: „Diese Möglichkeit des Möglichen verdichtet einerseits den Sinn der Virtualität oder des Bevorstehens der Zukunft – des ‚das kann immer, in jedem Augenblick passieren‘, man muss darauf gefasst sein, ich bin darauf gefasst, wir sind darauf gefasst – und andererseits den Sinn des Könnens, des Möglichen als etwas, dessen ich fähig bin, das in meiner Macht, Gewalt oder Möglichkeit steht.“ Wie auch immer man nach der Dekonstruktion das wuchernde Geflecht zwischen jenen Kategorien beschreiben mag, die die Literaturkritik des 19. Jahrhunderts Leben und Werk nannte – bei Derrida selbst war diese Beziehung intim. „Leben ist Überleben“: Diesen Satz entfaltet sein letztes Interview, das in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Lettre nachzulesen ist. Ein eigentümlicher Resonanzraum öffnet sich, in dem die Nachricht seiner schweren Krankheit ebenso mitschwingt wie die Frage nach seiner Wirkungsgeschichte oder die so einfühlsamen Seiten, die er dem Dichter der Todesfuge, Paul Celan, gewidmet hat.

Das Interview verlängert Linien, die in all den Nachrufen und Grabreden angelegt sind, die Derrida verfasst hat. Diese späten Texte über Roland Barthes, Paul de Man, Lévinas, Lyotard oder Gadamer – sie denken und weinen, sie argumentieren und lieben; gelegentlich sprechen sie die Verstorbenen direkt an und halten dabei doch die Distanz, die im Leben angemessen war. Sie lehnen sich dagegen auf, den Dialog mit den Verstorbenen versiegen zu lassen. Als Gilles Deleuze sich 1995 das Leben nimmt, bevor das geplante Treffen zustande kommt, schreibt Derrida: „Ich werde nun ganz allein in jenem langen Gespräch herumirren müssen, das wir zusammen führen wollten.“ Im vergangenen Jahr verabschiedet er Maurice Blanchot: „Ich weiß heute, dass ich, auch wenn ich diese Botschaften (an ihn) nie mehr der Post anvertrauen werde, nicht aufhören werde, ihm zu schreiben oder ihn anzurufen, in meinem Herzen oder in meiner Seele, wie man sagt, so lange ich lebe.“

Es gibt Leser, die bei Derrida jenen Trost suchen, den es nicht geben kann – und um den die Beerdigungsroutinen in Kirche und Massenmedien selten ringen. Seit diesem Wochenende wird man diese Nekrologe auch auf der Suche nach Worten für den Tod ihres Autors lesen.