Ein Goldfisch auf Schienen

Die S-Bahn, sonst ein eher wenig märchenhafter Ort, wird am 1. November zur Fantasiewelt: Auf der „KinderLiteraTour“ lesen Erzähler in einem Zug Geschichten vor und wollen Kids so zum Lesen bringen

von MEIKE RÖHRIG

„Na, wo wollt ihr hinfahren?“, fragt Kinderbuchautor Hensen Lukas, als sich die S-Bahn-Türen schließen. Die Schar von Sechs- bis Achtjährigen, die überall um den bärtigen Mitfünziger herum auf den Bänken und dem Boden des Waggons hocken, ist unschlüssig. „Nach Hause“, quäkt einer der Knirpse.

Tatsächlich aber geht es nach Italien. Zumindest in der Fantasie. In Italien spielt nämlich das neueste Abenteuer von Hensen Lukas’ Märchenfigur „Elfriede Lausefisch“, das der Autor eigens für diesen Anlass erfunden hat und nun erstmals präsentiert.

Der Anlass ist die vierte „KinderLiteraTour“, die am 1. November durch die Hauptstadt rollt. Die Berliner S-Bahn und die Kinder- und Jugendbibliotheken der Stadt schicken gemeinsam einen Märchen-Sonderzug auf die Reise (siehe Kasten), in dem Kinder nicht nur den Geschichten von Hensen Lukas lauschen, sondern auch Theater spielen, zaubern lernen und sich schminken lassen können. Oder einfach in den ausliegenden Büchern schmökern.

Eine Gruppe Erst- und Zweitklässler von der Thomas-Mann-Grundschule in Prenzlauer Berg darf schon mal Probe fahren – allerdings nur in einer gewöhnlichen S-Bahn, in der auch andere Fahrgäste zeitunglesenderweise herumsitzen. Damit es im Zug nicht ganz so trist ist, haben sich die Grundschüler vorher am Bahnsteig bunte Masken gebastelt. Auch Hensen Lukas erscheint passend zur Geschichte mit Halstuch und Strohhut verkleidet als italienischer Fischer.

„Wir bieten ein fantasievolles Programm, das Kinder zum Lesen anregen soll“, sagt Organisatorin Gisela Rhein von den Kinder- und Jugendbibliotheken. Die Kinder sollten merken, dass Lesen Spaß macht, und vielleicht in Zukunft selbst den Schulweg in U- und S-Bahn zum Lesen nutzen.

Schon in den vergangenen Jahren fanden die Lesefahrten in der S-Bahn großen Anklang: Die Karten waren innerhalb weniger Tage ausverkauft. Dieses Jahr findet die Tour erstmals in Kooperation mit den Berliner Märchentagen statt, die am 6. November beginnen. „Wir fahren quasi mit dem Zug in die Märchentage hinein“, erklärt Silke Fischer, Direktorin der Märchentage, die Idee.

In 650 Veranstaltungen können Kinder und Erwachsene bis zum 16. November ihrer Märchenleidenschaft frönen. Von der Mitmachaktion bis zum wissenschaftlichen Symposium stehen alle Aktivitäten unter dem Motto „Märchen, Mythen, Mittelmeer“, auch die „KinderLiteraTour“.

Hensen Lukas’ Geschichte, der die 26 Grundschüler mit offenem Mund lauschen, heißt deshalb auch „Das Mittelmeer, das trink ich leer!“. Selbst von der anwesenden Fernsehkamera nehmen die Kinder kaum Notiz. Statt über den gesamten S-Bahn-Ring geht die Fahrt nur bis „Hirschgarten“ und zurück. Unterwegs erzählt Lukas dann nicht nur von den Erlebnissen des sprechenden Goldfischs Elfriede Lausefisch in Venedig, sondern sucht das Gespräch mit den Kindern. Geduldig geht der Geschichtenerzähler auf die zahlreichen Kommentare ein und erfährt, wer schon einmal Meerschweinchenfutter genascht hat und dass Igel angeblich hundert Jahre alt werden. „Der Wolf ist eigentlich eher scheu“, gibt eine Kleine mit Zahnlücke und Zöpfen ihre Interpretation von Rotkäppchen zum Besten.

Zum Ende seiner Geschichte kommt Lukas angesichts solch tiefgründiger Einwürfe auf dieser Fahrt nicht. Das macht wenig, ging doch das Konzept bei den kleinen Probefahrern voll auf: Literaturförderung zum Anfassen und Mitmachen nennen das die Organisatoren. Nach Hause fahren wollte jedenfalls schon nach kürzester Zeit niemand mehr.