Jenni Zylka über PEST & CHOLERA
: Aufräumen ist gegen die Natur

Neue Kolumne „Pest & Cholera“*: Zimmer werden jeden Tag unordentlicher, weil Zimmer nach Chaos streben

*Pest & Cholera: Beschäftigt sich mit der pseudowissenschaftlichen Erforschung ärgerlicher Phänomene aller Art. Durch Umdeutung soll eine für die Menschheit suffiziente Neuinterpretation erreicht werden. Da ich keinen Sex mehr habe und nicht mehr lüge, erschien mir ein Wechsel von Sex & Lügen auf Pest & Cholera logisch. JZ

Die Entropie ist die Größe des Nachrichtengehalts einer nach statistischen Gesetzen gesteuerten Nachrichtenquelle. Das kann man, auch wenn ich mich mit höchstens fünf Punkten in fast sämtlichen Naturwissenschaften durchs Abi geschleppt habe, ruhig glauben, denn ich habe es aus einem amtlichen Fremdwörterlexikon abgepinnt.

Bevor man jetzt mit dem Denken anfängt, würde ich gerne noch die viel wichtigere zweite abgeschriebene Definition von Entropie zum Besten geben: Bei einer freiwilligen Zustandsänderung nimmt die Entropie eines abgeschlossenen Systems zu. Was ist nun aber eine freiwillige Zustandsänderung? Und wie kriege ich die Kurve zu dem Phänomen, das ich mit „Wer ist eigentlich für die Unordnung und den Dreck in meiner Wohnung verantwortlich“ bezeichnen möchte? Eine freiwillige Zustandsänderung, bezogen auf den Menschen, könnte zum Beispiel das Sichhinlegen sein. Wenn ich mich hinlege, der Schwerkraft also nicht mehr so stark trotze, bin ich dem Entropiezustand näher als vorher: Die Muskeln sind nicht mehr angespannt, der Gleichgewichtssinn pausiert, der Stoffwechsel hat es leichter. Nun die Wohnung: Da ich Aufräumen beim besten Willen nicht als „freiwillige Zustandsänderung“ bezeichnen kann, möchte ich das Phänomen des Von-selbst-unordentlich-Werdens untersuchen.

Früher, bevor ich mich im Rahmen dieser Kolumne wissenschaftlich mit solchen Themen beschäftigt habe, war ich so naiv, zu glauben, dass die Unordnung meiner Wohnung durch den „Chamäleoneffekt“ hervorgerufen würde: Wenn Haufen von Kleidern, Papier, Geräten und Geschirr lange genug an einer Stelle liegen bleiben, nehmen sie die Farbe der Umgebung an und sind fortan vom Bewohner, also mir, nicht mehr als Störfaktoren wahrnehmbar. Insofern konnte ich überhaupt nichts dafür, wenn ein Zimmer zumüllte, ich hätte die Haufen schon mit Kontrastmittel spritzen müssen, um sie effektiv wegräumen zu können. Mit dem Alter und einem auf natürliche Weise damit verbundenen Anstieg der Seriosität erkannte ich, dass diese Begründung wurmstichig ist: Wieso nahmen alle anderen Menschen die für mir nicht mehr sichtbaren Haufen wahr? Eine weitere, jedoch noch abwegigere Möglichkeit zur Erklärung des Chaos sah ich darin, frei nach „Die Insel des vorigen Tages“ von Umberto Eco zu vermuten, in meiner Wohnung befände sich noch eine zweite, geheime Person, die herauskäme, wenn ich schlafe, um die Wohnung in einen unordentlichen Zustand zu versetzen. Diese Option macht mir jedoch Angst, darum habe ich sie schnell verworfen.

Die o. g. zweite Entropie-Definition gibt mir eine neue Chance der Erklärung. Laut jenem so genannten Zweiten Hauptsatz des Thermodynamik“ wird mein Zimmer jeden Tag unordentlicher, weil es WILL: Es strebt nach Entropie, nach Chaos und Unordnung. Das ist seine Natur, um mit Dr. Hannibal Lector zu sprechen.

Versuche ich, den Zustand per Aufräumzwang (in gesteigerter Form auch als Putzfimmel bekannt) zu ändern, dann arbeite ich gegen einen natürlichen Zustand an. Darum lasse ich es lieber bleiben und empfehle, dies ebenfalls zu tun.

Wenn man nun auf die erste Entropie-Definition zurückkommt und mich, die Journalistin, als eine nach statistischen Gesetzen gesteuerte Nachrichtenquelle annimmt (ich bin für meine Statistiken nach langen, manchmal mehr als drei Telefongespräche einschließenden empirischen Untersuchungen bekannt), dann ist auch die nachrichtliche Entropie in diesem Text enorm hoch. Was wiederum sehr beruhigend ist.

Fragen zu PEST?kolumne@taz.deMorgen: Barbara Bollwahns ROTKÄPPCHEN