Ein Traum mit Namen Parzelle 46

Leerstelle (17): Der Berliner Schienenverkehrsknotenpunkt Ostkreuz war 1936 hochmodern. Demnächst wird er zusammenbrechen

An dieser Stelle beschäftigen sich Franziska Hauser (Fotos) und Thomas Martin (Text) vierzehntäglich mit den Nebenstellen des Lebens in Berlin.

Ein, soweit bekannt, berlinisches Phänomen ist der Schrebergarten zwischen den Gleisen der Stadtbahn. Spitzwinklig angelegt, sind kaum kleinere zu finden, nirgendwo sind die Schienen enger gestrickt als in Berlin. Der Zustand hat sich, um das Ostkreuz herum, zum infrastrukturellen Stolperstein entwickelt; auszuräumen scheint er unter Preisgabe der Infrastruktur selbst nicht zu sein. Der östliche Schienenverkehrsknotenpunkt hat sich unter Fremdkörpereinschluss ausgewachsen zum anarchischen Kern der Nahverkehrspolitik, die hier deutlich stockt wie nirgends sonst. Den Bahnhof inklusive Anbau und Umbaumaßnahmen zum Kunstwerk zu erklären wäre überfällig, das haben andere getan. Voran die S-Bahnangestellten, die auf dem Hochbahnsteig F (Ringbahn, S8) einen Bauzaun, der Arbeiten zur Beseitigung einer Lücke in der Bahnsteigsüberdachung abgrenzen sollte, nach Jahren aber immer noch steht, saisonal wechselnd mit allerlei Requisiten füllten: Weihnachtsbäume, Ostersträuße und was sonst das Gemüt des Reisenden zwischen Pendelverkehr und Kontrolleinsätzen durch den Anblick eines harmonischen Gefüges erhellt.

Meistens ist der Bauzaun allerdings mit fetter Staubschicht über grünem Kneipenfilz gefüllt, auf dem sich der Wegwurf der Passanten zur Halde staut und jeder Witterung widersteht. Auch das kann Kunst und Absicht sein, wer kann es wissen.

Früher wurden solche Fragen nicht gestellt. Früher herrschte nackter Realismus vor, das Ost-Kreuz stand dafür mit Namen. Früher fuhr man auch nicht besser, früher waren Bauzäune Bauzäune, Müll war Müll und bestenfalls Devise (Glasbruch vor allem). Ganz früher war das Ostkreuz eine Häufung kleiner Vorortbahn-, Stadtbahn, Ringbahnhöfe unter der topografisch eindeutigen Bezeichnung Stralau-Rummelsburg.

Bis 1929 mit der Elektrifizierung die Rationalisierung zum Zug kam und das Ostkreuz entstand. 1933 zeitgleich mit dem Gegenstück im Westen (vorher Bahnhof Ausstellung) neu benannt. Weniger verwirrend, umso mehr beeindruckend die Konstruktion der verschachtelten Anlage dieser Zeit, ein Dreieck, von zwei Hochbahnsteigen, vier ebenerdigen und mehreren Fernbahngleisen gebildet. Die Nordkurve des Rings traf die Südkurve an, ein Ost-West-Mittelstrang verflocht sich mit beiden. Was ausgebaut um 1936 Hochmoderne war, war 1956 nicht wieder erreicht, 1966 zum Zentrum des nun nur Ostberliner S-Bahn-Netzes geworden, 1986 überfällig in der Rekonstruktion, und wird in nächster Zukunft unter 100.000 Reisenden am Tag zusammenbrechen. Sicher ist Gelassenheit Voraussetzung für solche Sicht, und sicher, solche Muße hat nicht jeder. Doch immer mehr müssen sie haben, die Arbeit nimmt ab, die Zwangsfreizeit dagegen zu.

Früher konnte ein Kind sich Warteminuten lang aus dem S-Bahn-Fenster in die Gegend träumen, die Brandmauern mit verwitterten Reklameresten, Hinterhofeinsichten und, am eindrücklichsten von allen, der Blick auf stillgelegte Paradies anzubieten hatte: Schrebergärten, weil sie so schräg, weil sie wie Streben zwischen den Gleisen lagen. Die Stelle im Dreieck der Linien S5, S7, S8 hatte wirklich einen Kindertraum markiert. Dass der Traum Parzelle 46 heißt, ich konnte es als Kind nicht wissen.

Dem Traumreich war und ist wie in der Wirklichkeit ein Riegel vorgeschoben, den außer einem S-Bahn-Angestellten nur der Kleingärtner öffnen darf, vermutlich ein und dieselbe Person. Aber man kann sich hineinschleichen, Zäune übersteigen am nördlichen Zugang Ringbahnsteig, die Stiege hoch zum auf Gleisbetthöhe gelegenen Reich, in dem ein ausgedienter Werkzeugschuppen, ein Stellwerk und viereinhalb Gemüsebeete ihr Milieu ausmachen.

Idylle kann man es nicht rückhaltlos nennen; die idyllische Komponente dieser Art der Nutzbarmachung eines noch intakten Industriegeländes ist doch nicht zu übersehen.

THOMAS MARTIN