ausgehen und rumstehen: Auf der Suche nach der sicheren Ausgehbank: im kurzen Karrera Klub, beim alten Literatursalon
Zu viele Nächte, zugebracht in der Erlebnisgastronomie-Hölle White Trash, hatten mir zuletzt beinahe den Verstand geraubt. Handschellen tragende Enddreißiger, die sich zum Thema Pop anbrüllen und zu Cowboyfilmen ohne Ton – das macht keinen Sinn und immer ist die Musik zu leise zum Tanzen. Ich hatte genug von diesem Leben, zumindest am Wochenende. Eine sichere Amüsierbank muss mal wieder her, dachte ich, so wie ich das von meinen Besuchen in Köln kenne. Am Freitag geht man dort eben „ins Studio“, weil es sowieso nichts anderes gibt.
Aber ich lebe ja nicht in Köln, das muss es auch hier geben, diesen Spaß ohne Umwege. Dachte ich und nahm kurzerhand die Einladung eines Freundes an, der mich am Freitagabend nach Friedrichshain verschleppen wollte. Eigentlich kenne ich diesen Bezirk ja als No-Go-Area, was alles Nachtleben außer VoKü und Tischfußball betrifft. Doch ich wollte eben was Neues erleben, also hin zu „Rosi’s“ in die Revaler Straße. Auf dem Weg roch es überall nach dem Berlin der „guten Zeit“, wie wir Veteranen die Phase nennen, in der man nie in einen Club gelassen wurde, ohne etwas Ähnliches zu sagen wie „Schengener Abkommen“ oder „Gremlins“ .
Nostalgisch stolperte ich durch Löcher groß wie Mondkrater und ließ mich widerstandslos von einem rot blinkenden Punk-Hund anfallen, bis wir endlich unser Ziel erreichten. Das „Rosi’s“ ist eine dieser ruinösen Südsee-Locations, die man in diesem Sommer überall in der Stadt finden konnte, bei deren Besuch mich allerdings regelmäßig die Erinnerung an einen schrecklichen Thailand-Urlaub vor vielen Jahren einholte. Hier ging es jetzt aber eher zu wie vor einer Großraumdisco im Brandenburgischen. Hübsch gemachte Jugendliche standen Schlange, es war „Karrera Klub“-Abend, der Indie-Disco pur verspricht.
Ein Mitglied der erfolgreichen, aber derzeit wegen angeblicher neonationaler Tendenzen gescholtenen Pfadfinder-Band Virginia Jetzt! legte Platten auf. „Der hat wohl was gerade zu rücken“, dachte ich mir, als er uns umsonst reinließ. Dann plauderte der Junge aber so freundlich vom „Untergang“ und wie die Umland-Bevölkerung im Kino über Hitler lacht, dass man ihm einfach nicht böse sein konnte. Nicht mal Mia wollte er auflegen.
Als der Abend gerade lustig wurde – Arme flogen zu alten Beastie-Boys-Liedern in die Luft, Wasser tropfte von der Decke – holte mich die Realität wieder ein: Mein Begleiter fing an zu jammern. Er wollte heim, das Fernsehduell zwischen Bush und Kerry ohne Zeitverzögerung gucken. Aus Höflichkeit ging ich mit, um ihm, kaum hatte der Herausforderer den ersten Satz gesprochen, beim Einschlafen zuzusehen. Aber es gab ja noch den Sonntag. Ich war eingeladen bei den Alten. Die veranstalten in letzter Zeit immer häufiger literarische Salons – vermutlich, um ihrer aus physischer Verrottung geborenen Neigung, zu Hause zu bleiben, den Anstrich von szeniger Aktivität zu geben.
Ganz in Weiß und in seinem ausladenden Bett kniend, las Jörn Morisse, ehemals berühmter Punk-Mäzen ohne Geld, aus der von ihm besorgten Übersetzung eines amerikanischen Fanzine-Romans. Vielen Gästen standen Tränen in den Augen, als sie die Geschichten aus den alten Hausbesetzer-Tagen im Berkeley der frühen Achtziger hörten. „Ach Gott“, flüsterte jemand, „noch einmal dreißig sein!“ Und draußen begann weiterhin der Herbst. LORRAINE HAIST
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