Demokratie: mangelhaft

Jimmy Carter: Florida „erfüllt nicht die international gültigen Voraussetzungen“

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

Je näher die US-Präsidentschaftswahl Anfang November rückt, desto mehr Stimmen warnen vor einer Wiederholung des Wahlfiaskos vom Herbst 2000. Obwohl die Wahl in Florida so bizarr war und so tiefe Wunden in der US-amerikanischen Gesellschaft gerissen hat, dass an eine Wiederholung eigentlich nicht zu denken war, sind alle Voraussetzungen für ein Déjà-vu-Erlebnis gegeben: Unsichere Wahltechnik, verwirrende Regeln und dubiose Praktiken von Wahlbehörden.

Wie sehr Demokraten und Republikaner eine Wiederholung fürchten, zeigt die Tatsache, dass beide Parteien ein Heer von Rechtsanwälten aufgestellt haben für den Fall, dass Wahlverlauf oder Wahlergebnisse in bestimmten Bundesstaaten angefochten werden.

Dabei sollte genau diese Situation für den kommenden Urnengang ausgeschlossen sein. Als Konsequenz aus dem Albtraum in Florida verabschiedete der Kongress im Herbst 2002 ein neues Wahlgesetz, den „Help America Vote Act“. Die US-Regierung stellte den Bundesstaaten 3,8 Milliarden US-Dollar zur Verfügung, um ihre veraltete Wahltechnik zu modernisieren. Zudem verlangte sie Mindeststandards für die Wählerregistrierung. Allerdings schrieb sie keine einheitlichen Regeln für alle Wahlkreise vor – solche landesweiten Verordnungen sind in den stark föderalen USA nur schwer durchzusetzen. Dies erwies sich als entscheidendes Manko. Die Minimalstandards ließen Bundesstaaten und Wahlbezirken viel Spielraum bei der Umsetzung der Reformen. Das Resultat: Ein Flickenteppich mit landesweit sieben verschiedenen, zum Teil überholten und unzureichend erprobten Wahltechniken. Viele benachbarte Stimmbezirke benutzen völlig unterschiedliche Maschinen. Probleme scheinen programmiert.

So werden 32 Millionen Wähler weiterhin jene berüchtigten Stanzmaschinen benutzen, die in Florida Chaos und Nachzählung auslösten. Viele dieser Maschinen sind in umkämpften Staaten im Einsatz, wo ein knapper Wahlausgang erwartet wird. Die heftigste Kritik der Fachleute richtet sich jedoch gegen die neue elektronische Stimmabgabe. Hierbei entscheiden die Wähler, indem sie den Namen des Kandidaten auf einem Bildschirm berühren. Rund 50 Millionen US-Amerikaner, ein Drittel der Wahlberechtigten, werden am Touchscreen wählen gehen. Diese Technik verfügt über zwei entscheidende Schwachstellen: Die Software weist massive Sicherheitslücken auf. Obwohl Herstellerfirmen beteuern, die Fehler mittlerweile behoben zu haben, konnten Computerhacker sie ohne Schwierigkeiten manipulieren. Doch die weitaus größere Sorge: Es gibt keinen Nachweis für das Votum eines Wählers. Seine Stimme verschwindet ohne Papierausdruck im Computersystem. So kann bei einem knappen Wahlausgang, bei vermuteten oder festgestellten Computerfehlern, das Ergebnis nicht durch eine Nachzählung überprüft werden.

Und Fehler passieren genug. Bei einer Lokalwahl in Florida im vergangenen Januar gewann ein Kandidat mit 12 Stimmen Vorsprung. Ein Landesgesetz sieht vor, dass bei solch knappem Ausgang eine Nachzählung erforderlich ist. Dies war jedoch unmöglich, da es keinen Nachweis für die abgegebenen Stimmen gab. Im Bundesstaat Indiana gingen kürzlich 5.300 Bürger wählen, doch der Computer registrierte 140.000 Stimmabgaben. Und in Virginia subtrahierten Wahlcomputer die Stimmen, anstatt sie für einen Kandidaten zu addieren.

Verschwörungstheorien und Orwell’sche Fantasien könnte man jedoch mit einem einfachen Papierbeleg zerstreuen. „Alles was wir benötigen ist ein vom Wähler verifizierter Ausdruck seiner Stimmabgabe“, sagt Rebecca Mercuri, Wahlexpertin von der Harvard University. Dies ist technisch kein Problem. Ein Drucker wird an den Computer angeschlossen und zeigt die vom Wähler abgegebene Stimme hinter einer Sichtblende auf einem Ausdruck an. Ist die Stimmabgabe nach Ansicht des Wählers fehlerfrei, drückt er eine Bestätigungstaste, und der Wahlzettel fällt in eine „Wahlurne“. Zeigt der Ausdruck eine falsche Wahl an, kann der Bürger sie korrigieren, bevor das Votum endgültig ist. Diese Prozedur ist in Kalifornien mittlerweile Gesetz. Allerdings tritt es erst 2006 in Kraft. Die Bundesstaaten Washington und Illinois haben ähnliche Regelungen verabschiedet, doch auch sie kommen für die Wahl in vier Wochen zu spät.

Insgesamt bleibt rätselhaft, warum sich so viele Staaten gegen diese relativ einfache und sichere Wahlmethode sträuben, die selbst bei den Wahlen in Venezuela angewendet wurde. Noch weniger verständlich ist, dass ausgerechnet die Wahlbehörden in Florida im April eine Verordnung verabschiedeten, die Wahlkreise mit Touchscreen-Maschinen von einer manuellen Nachzählung „befreit“, auch wenn ein knappes Ergebnis dies rechtlich verlangt. Ein Gericht hat zwar der Klage von Bürgerrechtlern stattgegeben, dass die Bestimmung gesetzwidrig sei, doch es gilt als wahrscheinlich, dass Gouverneur Jeb Bush Berufung einlegt.

Angesichts des mangelnden Vertrauens in die neue Technologie werden die Rufe nach einer Rückkehr zum herkömmlichen schlichten Wahlzettel laut. Ein solcher Schritt ist jedoch wenig erfolgversprechend. Daher fordern Experten zumindest eine größtmögliche Transparenz der neuen Systeme und eine unparteiische Kontrolle. Derzeit werden die neuen Wahlmaschinen von drei Firmen unter der Bedingung der Geheimhaltung getestet. Zwei ihrer Chefs haben öffentlich für die Republikaner geworben. Der Firmenboss des führenden Wahlcomputer-Herstellers „Diebold“ wurde vergangenes Jahr auf einer Wahlkampfveranstaltung der Republikaner mit den Worten zitiert, er fühle sich verpflichtet, dem Präsidenten im wichtigen Bundesstaat Ohio zum Sieg zu verhelfen. Dies geschah just zu dem Zeitpunkt, als sich seine Firma um die Ausschreibung des Staates für besagte Wahlmaschinen bewarb. Mercuri verlangt daher, dass eine unabhängige staatliche Behörde die neuen Wahlmaschinen zertifizieren und beaufsichtigen müsse.

In Indiana wählten kürzlich 5.300 Bürger, doch der Computer registrierte 140.000

Zu all den technischen Problemen bieten die USA ein verwirrendes Bild in der Frage, wer wo wie wählen darf. Manche Staaten verlangen einen Identifikationsnachweis wie den Führerschein. Woanders müssen nur Neuwähler sich ausweisen. „Dieser Wirrwarr bietet eine Reihe von Möglichkeiten, Menschen ihres Wahlrechts zu berauben“, klagt Ralph Neas von der Organisation „People for the American Way“. Über die Registrierung ist überdies ein Parteienstreit ausgebrochen. Die Republikaner wollen generell, dass sich Wähler ausweisen. Demokraten glauben, dass so vor allem Minderheiten oder Arme ausgeschlossen werden, die oftmals über keinen Führerschein – die einzige Ausweisform in den USA – verfügen. Manche Staaten verweigern zudem ihren Gefängnisinsassen das Wahlrecht. Florida hat so 22.000 Afroamerikaner von den Wählerlisten gestrichen, jedoch nur einige Dutzend Latinos. Kritiker wittern Wahlmanipulation, schließlich stimmen im Sonnenstaat die Schwarzen mehrheitlich für die Demokraten und Hispanics für die Republikaner.

Kein Geringerer als der frühere Präsident Jimmy Carter wirft Florida daher versuchten Wahlbetrug vor. „Der Bundesstaat erfüllt nicht die international gültigen Voraussetzungen für eine faire Wahl“, schrieb der engagierte Wahlbeobachter Ende September in der Washington Post. Er bemängelte, dass es an parteiunabhängigen Wahlkommissionen und einheitlichen Abstimmungsverfahren fehle. Gouverneur Jeb Bush, Bruder des Präsidenten, habe notwendige Reformen nach dem Wahldebakel 2000 verhindert.

Wie sehr die derzeitige Gemengelage in Florida an den Herbst vor vier Jahren erinnert, machte das Magazin Vanity Fair in einer aufwändigen Recherche seiner Oktoberausgabe deutlich. Es förderte verstörende Fakten zu Tage über die Ereignisse in jenen 36 November- und Dezembertagen, über unheimliche Allianzen zwischen Regierung, Gerichten und Wahlkommissionen des Bundesstaates, enthüllte fragwürdige Methoden des Gouverneurs zum Wahlausschluss von Minderheiten und nährt die Vermutung, dass seine Regierung über die damaligen Fehler der Wahltechnik eingeweiht war.

Einziger Ausweg, um ein erneutes Wahlchaos zu verhindern, ist für Carter und unabhängige Beobachter eine möglichst flächendeckende Wahlüberwachung in Florida, aber auch anderen entscheidenden Bundesstaaten. Neben einheimischen werden auch internationale Organisationen den Wahlverlauf prüfen. „Global Exchange“, eine Nichtregierungsorganisation, die weltweit Wahlen überwacht, wird mit einem Team aus Südafrika und Asien vor Ort sein. Sprecher Jason Mark nannte den Einsatz „beispiellos“. Erstmals soll auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Beobachter entsenden. „Die kommende Wahl wird so sehr unter die Lupe genommen wie keine zuvor“, sagt Doug Chapin von der Wahlbeobachtungsgruppe Electionline.org. daher voraus. Er wäre überrascht, sollte es nicht zu Wahlskandalen kommen. „Das Misstrauen ist so hoch, die Überprüfungen so umfassend. Jeder Funke kann derzeit ein Feuer entfachen.“