Genetischer Schrei nach Hilfe

Um den Genpool der kleinen Quietscher aufzubessern, bleibt oft nur Fremdgehen

Seit es einen Vaterschaftstest für Vögel gibt, ist bekannt, dass Meisen fremdgehen wie Karnickel

Dieter* ist ein echter Feger. Er sieht gut aus, kommt immer gebräunt daher, entblößt beim Lächeln und Schabernacken seine blitzblanken, geraden Zähne und stellt seine verblüffend starke Ausstrahlung wie ein buntes Federkleid zur Schau. So aufgeplustert wirkt er attraktiv und ist der Schwarm vieler Frauen. Ebenso Boris*. Sein Markenzeichen ist die etwas ungekämmte Art, sich zu frisieren, die er aber durch seine sportliche Erscheinung mehr als kompensiert. Er ist durchtrainiert, muskulös und verfügt über einen starken Arm, mit dem er gerne bereitwillige Frauen ab- und sogar in kleine, schwach beleuchtete Kammern schleppt. Selbst der in die Jahre gekommene und leicht ergraute Herr Kaiser wird von jungen Damen kaum weniger missachtet als zu den Zeiten, als er noch gut kickte.

Dieser kurze Abriss reicht schon aus, um diese Geschöpfe als eher typische Vertreter ihrer Spezies zu erkennen. Zudem sind sie bei Betriebsfeiern oft blau und erwecken dann immer den Eindruck, sie hätten eine leichte Meise. Etwas anderes wurde bereits deutlich: Frauen fliegen auf sie, wie die einst besungenen Motten das Licht. Etwa die heißblütige Verona*, oder die an eine Märchenprinzessin aus dem fernen Arabien erinnernde Nadja*. Selbst Sabrina* nebst Anna* und Heidi* lassen sich nicht beirren. Dass bei diesen wilden Begegnungen ab und zu Kinder entstehen, ist biologisch gewollt und wird in bunten Bildern gern dokumentiert. Vornehme Franzosen nennen diese Geschichten schlicht Affären, Moralisten verwerflich. Für strenge Katholiken ist dieses, jetzt nennen wir das Ding endlich beim Namen, „außereheliche und häufige Herumvögeln“, gar der Freifahrschein zur Hölle. Aber keine Sorge, richten, den erhobenen Zeige- oder gar den aufgereckten Effefinger schwingen, das wollen wir nicht. Aber Hingucken möchten wir schon, wenn auch diskret.

Nichts liegt hier näher, als das Verhalten bei Vögeln zu beobachten, es lohnt es sich allemal. Betrachten wir deshalb das Liebesleben der Blaumeisen, deren rhythmischer Singsang „zizi bäh“ alle Herzen erfreut. Bisher wurden sie gern als Vorbilder herangeführt, denn ihr Ruf galt als unbelastet. Die Exemplare dieser Vogelgattung seien monogam, leben also, im Gegensatz zu den willkürlich und zufällig herausgepickten Menschenbeispielen, bis ans Ende ihrer Tage mit ein und demselben Partner zusammen und mehren sich fruchtbar.

Von wegen monogam: Seit ein molekularer Vaterschaftstest selbst bei Vögeln routinemäßig zur Verfügung steht, ist bekannt, dass Meisen fremdgehen wie die Karnickel. Dieses Verhalten, von Vogelforschern vornehm zurückhaltend als außerpaarliche Kopulation bezeichnet, ist sogar eher die Regel als die Ausnahme. Das aus gutem Grund, so die Ornithologen, denn dabei werden Nachkommen gezeugt, deren genetisches Material vielfältiger ist als das ihrer ehelichen Halbgeschwister.

Den Beweis dieser These hatten jetzt Vogelkundler, gepaart mit Molekularbiologen, treffenderweise in der Zeitschrift Nature glaubhaft dargelegt. Meisenweibchen frischen immer wieder ihr genetisches Material außerhalb ihres ansonsten glücklichen Familienlebens auf. Logisch, denn während der Paarungszeit suchen viele junge Weibchen einen Lebenspartner. Leider sind nicht immer genügend Männer frei, und wie so oft ist der übrig gebliebene Nesthocker nicht gerade der genetische Traummann. Dann bleibt der Meisin nur noch die Option des Fremdgehens, um den Genpool ihrer künftigen kleinen Quietscher aufzubessern.

Natürlich wählt sie dafür gerne Typen, die stärker und größer sind als ihr sozialer Partner, also Blaudieter oder Meisenboris, denn diesen wird ein deutlicher Konkurrenzvorteil zugesprochen. Selbst höheres Alter ist kein Hindernis, sondern ein Zeichen für die Überlebensfähigkeit im rauen Klima. Deshalb hat selbst der leicht zerfiederte Herr Meisenkaiser große Chancen, für den ein oder anderen Paarungsvorgang erwählt zu werden. Seine in den Genen festgeschriebene Fitness, hoffen die promiskuitiven Weibchen zu Recht, werde an die Nachkommen weitergegeben. Weshalb auch Meisenkardinal und Dompfafffraktion nicht protestierend zur kollektiven Buße aufrufen.

Damit drängt sich allerdings noch eine Vermutung auf: Vielleicht ist die nie in die Jahre gekommene Stammtischweisheit „Dumm vögelt gut“ nichts weiter als ein verzweifelter, ins Hirn fortgesetzter Hilfeschrei des genetischen Codes, und die außerpaarliche Kopulationshäufigkeit lediglich ein Abbild der Versuche, einen Schuss Auffrischung des – pardon – mutmaßlich minderwertigen biologischen Materials zu bekommen. Dann blieben sogar Moralisten außen vor. In jeder Beziehung. * Name geändertTHOMAS VILGIS