Zu Besuch in einer anderen Welt

Zum ersten Mal nach Talibanstaat und Krieg reisten afghanische Studierende nach Deutschland – der akademische Austauschdienst kümmert sich auch in Afghanistan um Wiederaufbau der Hochschulen

Warlords beherrschen nach wie vor weite Teile des Landes, auch wenn es in der letzten Woche erstmals Präsidentschaftswahlen gab – von einer Normalisierung des zivilen Lebens ist Afghanistan noch weit entfernt. Geradezu paradiesisch erschien 15 afghanischen Studentinnen und Studenten daher ihr Aufenthalt an der Universität Duisburg-Essen. Im August und September waren die StudentInnen aus Kabul zu Gast auf dem Campus der Fusions-Universität.

Sechs Jahre nach der Machtergreifung und fast drei Jahre nach Absetzung der Taliban war dies die erste Reise für afghanische Studierende ins europäische Ausland. Die Gruppe der 15 besten Studierenden aus dem dritten und vierten Studienjahr der Kabuler Universität erwartete in Essen ein vielfältiges Unterrichts- und Kulturprogramm, organisiert vom Duisburg-Essener Institut für Kultur und Sprache (IKS).

Es beinhaltete Sprachunterricht, Unterricht zur interkulturellen Kommunikation, Landeskunde und Computerkurse. Daneben gab es ein Kulturangebot, Stadtrundfahrten mit Ausflügen ins Ruhrgebiet und benachbarte Regionen, sowie Exkursionen nach Köln, Bonn, Koblenz und Berlin. Unerwartet war für die Studierenden das Stadtbild von Berlin, wo sie eine Woche verbrachten. Keiner von ihnen hatte eine intakte Stadt ohne Kriegsspuren erwartet. „Das zu sehen, war eine wichtige Erfahrung für die Gruppe“, so Ramona Karatas, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Campus Essen, „die jungen Afghanen haben in Berlin erfahren, dass es viel Zeit und Kraft kostet, bis ein Krieg überwunden ist, und dass auch Afghanistan Zeit brauchen wird, um ein funktionierender Staat zu werden.“

Finanziert wurde der Besuch in Essen vom Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD). Der fördert mit Mitteln des Auswärtigen Amtes den akademischen Wiederaufbau der Hochschulen in Afghanistan. Schwerpunkte bilden die Dozenten-Fortbildung, die Curricula-Entwicklung in den Fachbereichen Wirtschaftswissenschaften, Geowissenschaften, Naturwissenschaften und Informatik und die Ausbildung junger Nachwuchsgermanisten in der Deutsch-Fakultät der Universität Kabul. Der DAAD ist auch behilflich beim Aufbau einer eigenen Fachbereichsbibliothek bei den Germanisten. Bisher mussten sich die Studierenden immer bis zur auch nicht gerade üppigen Zentralbibliothek der Uni durchschlagen – beim Zustand der Kabuler Straßen ein langwieriges und sogar gefährliches Unternehmen. Und auch die deutschen ISAF-Truppen leisteten Hilfestellung, indem sie der neuen Bücherei ein paar Regale lieferten.

Der Kulturschock fiel für die meisten Studenten jedoch geringer aus, als anzunehmen. Durch ihr Studium und die Medien waren sie auf vieles, was in Deutschland anders ist, vorbereitet. Etwa, dass Frauen hier mehr Freiheiten genießen und die deutsche Gesellschaft viel liberaler ist. Trotzdem erschien einiges doch ein bisschen fremd. (siehe Kasten) Dem 20-jährigen Nangialei Zahfie fiel auf, dass sich Pärchen auf offener Straße küssen. „Das wirkt schon sehr erotisch“, so der junge Mann über eine hier selbstverständliche Szene – undenkbar hingegen in Afghanistan. HOLGER ELFES