Fast den Piccolo verschüttet

„Mach dich nackig!!!“, rufen euphorisierte Damen. Lionel Richie, fitter Mittfünfziger, begeisterte mit seinen Flachleg-Balladen in der ausverkauften Max-Schmeling-Halle. Er wird sich, jetzt schon dreißig Jahre lang, immer ähnlicher

In den frühen Achtzigern trugen wir alle Hawaii-Hemden und Detroit-Tigers-Basecaps und warteten im Wesentlichen die lächerlichen sechs Jahre ab, bis wir endlich den Führerschein hätten, um selbst den roten Ferrari zu fahren, der bis dahin als Matchbox-Version unser Kinderregal schmückte. Eines Dienstagabends jedoch verkündete Thomas, er habe noch zwei superexklusive Karten für das Konzert von einem gewissen Lionel Richie bekommen, und Rick und T.C. wurden sofort neidisch: Darauf fuhren doch alle Frauen ab! Wir verstanden die Botschaft, kauften nächsten Tags die Chromkassette „Dancing on the ceiling“ und hörten sie gespannt an. Es war der erste Riss in unserer heilen „Magnum“-Welt.

Lionel Richie und seinen Flachleg-Balladen konnte diese Skepsis aber nichts anhaben. Er wurde sich einfach immer ähnlicher, hält mit seinen Songs („Hello!“) seit dreißig Jahren ziemlich exakt den 40-prozentigen Programmanteil am Formatradio, der eigentlich auch deutschen Produktionen („Ich sag einfach Hello again“) gehören könnte, und hat nebenbei sogar noch Zeit gefunden, sich zu vermehren: seine Tochter Nicole treibt sich mit einer sexbesessenen Hotelerbin im Fernsehen rum.

Am Mittwochabend gastierte er jetzt in der Max-Schmeling- Halle, die bei Ticketpreisen von knapp 50 Euro und bestuhltem Innenraum natürlich locker ausverkauft war. Mit einem heftigen Beat-Einsatz, bei dem es den Damen im Publikum fast den Piccolo verschüttet hätte, betritt er mit einer jungen, hungrigen 5-Piece-Band die Bühne, frenetischer Beifall, ganz großer Auftritt! Richie stellt sich in einem angenehm lässigen Ludenoutfit – Stiefeletten, schwarze Lederhose, schwarzes Hemd mit blauer Drachenapplikation, Brust frei, Goldkettchen – erst mal breitbeinig an die Rampe und umarmt mit weit ausholender Geste das Publikum, yeah, Berlin, all right!

„Just for you“, sein aktueller Hit, ist der Opener, schön gitarrenlastig, fast schon gut abgehangener Schweinerock. Dann geht’s mit „Running with the night“ und „Still believe in you“ erstaunlich rockig weiter. Lionel Richie ist größer als erwartet, wippt in den Knien, macht ein paar zaghafte Tanzschritte, als würden die Commodores ihm immer noch zur Seite stehen. Kommt aber insgesamt als geschätzter Mittfünfziger erstaunlich fit rüber und ist immer noch gut bei Stimme – wenn nur nicht das Schlagzeug so in den Vordergrund gemischt wäre und über alles hinwegwummerte, als säße der leibhaftige Phil Collins, Lionels großer Radio-Gegenspieler, dort an den Drums.

Danach haut Richie plötzlich aggressiv aufs Mikro – kleiner Seitenhieb auf Elton John und dessen Fake-Vorwürfe gegen die Branche –, um zu demonstrieren, dass das hier auch alles live ist. Man denkt kurz an seinen großen Fan Marilyn Manson, der sich jedoch nicht traut, mit Richie Kontakt aufzunehmen, weil er „irgendwie Angst“ vor ihm hat.

Aber dann kommen erst mal „Easy“ und „Ballerina Girl“ – der Abend schnulzt sich langsam ein. Lionel in Nahaufnahme mit seiner großen Richard-Pryor-Omme gleich zweifach auf die überdimensionalen Leinwände im Hintergrund projiziert, zufrieden auf sein restlos euphorisiertes Publikum schauend. Bei „Outrageous“ tanzen Damen- Grüppchen in bester Sex-and-the-City-Stimmung händeklatschend vor ihren Sitzen. Richie tigert über die Bühne, „all right!“, und wischt sich demonstrativ den Schweiß von der Stirn: „Oooh, I’m sweating – and we are just getting started!“ – „Mach dich nackig!!“, ruft keck eine Mutti aus dem Publikum.

Richie antwortet jedoch stattdessen mit dem wunderschönen „Three times a lady“ und singt danach in weiser Voraussicht „I’ve got a long long way to go/ Before I can say Good night“. Der Abend wird noch großartige anderthalb Stunden so weitergehen.

Ach ja, Magnum war auch da! Gut gealtert auch er, immer noch mit Schnurrbart und den engen Eierkneifer-Jeans. Magnum hat Hawaii inzwischen verlassen und lebt heute als Privatier in Heinersdorf. Er saß entspannt in der dritten Reihe, neben sich seinen jüngeren Lover, die leidige Zwangsheterosexualität längst abgelegt. Glücklich schauten die beiden zu Lionel Richie empor.

ANDREAS MERKEL